Seite - 240 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Unseld, „ich habe es fast in einem Anlauf durchgelesen, war stellenweise ziem-
lich wütend, ärgerlich, aber schließlich doch fast ‚erschlagen‘. Das ist doch ein
großartiges Buch.“ 94 Handke, der bereits hier von seinen Emotionen bei der Lek-
türe des Romans ausgeht („wütend“, „ärgerlich“), beschloss in der Folge, seine
Eindrücke ausführlicher festzuhalten und seine Wertschätzung für Bernhards
Buch auch öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Im September schickte er den
offenbar recht kurzfristig entworfenen Text an Alfred Kolleritsch zum Abdruck
in den manuskripten. Er habe, so Handke, „[g]estern […] eine Geschichte [!]
über Thomas Bernhards ‚Verstörung‘ geschrieben“:
Du kannst es als eine Art Besprechung machen, obwohl ich gerade den Typ der
Besprechung vermeiden wollte, sondern eine Geschichte schreiben, wie ich ein
Buch gelesen habe. Ich finde das Buch übrigens ganz außerordentlich, auch wunder-
bar enervierend. So oder so gehört es in einer österreichischen Literaturzeitschrift
erwähnt.95
Handke, der sich „fasziniert von der Denk-, vor allem aber von der Sprach-
welt des Fürsten Saurau“ zeigt,96 beschreibt die Lektüre von Bernhards Roman
als „Abenteuergeschichte[ ]“ 97 des Lesens. Diese beginnt mit der Ankunft des
Erzählers auf dem Hauptbahnhof in Hannover; weil er den Bekannten, den er
besuchen möchte, telefonisch nicht erreichen kann, nimmt er im Bahnhofscafé
Platz: „Ich bestellte etwas zu trinken und las ein wenig in der Zeitung. Ich war
recht müde, aber das Buch ließ mir keine Ruhe.“ 98 Der Text bietet im weiteren
94 Handke an Unseld, 23. 5. 1967. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 1), S. 73. Unseld
antwortete darauf überraschend ambivalent: „Ich freue mich, daß Sie Bernhards Buch letztlich
doch zustimmen können; es ist ja ein Buch, das eher durch seine Schwächen als durch seine
Vorzüge fasziniert.“ (6. 6. 1967; ebd., S. 75)
95 Peter Handke an Alfred Kolleritsch, 22. 9. 1967. In: P. H./A. K.: Schönheit ist die erste Bürger-
pflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2008, S.
18 f. Vgl. den Erstdruck in Peter
Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las. In: manuskripte (1967), H.
21, S.
14 – 15.
96 Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Salzburg, Wien: Residenz 2015, S.
180.
97 Wagner: Handke als Leser (Anm.
79), S.
146.
– Vgl. Hans Höller: Wie die Form der Sprache das
Denken des Lesens ermöglicht. Der analytische Charakter von Bernhards Sprache. In: Rheto-
rik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hg. v. Joachim Knape u. Olaf Kramer. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2011, S.
81 – 90, hier S.
81: „Handke hat seine Lektüre von Bernhards
Verstörung als ein Abenteuer beschrieben.“ Peter Hamm zufolge handelte es sich bei Handkes
Lektürebericht um „[e]ine ganz wunderbare Rezension“, „die selber ein Stück Literatur war“
(Peter Hamm: „Ich verdanke Ihnen das schönste Hotel meines Lebens“. In: Was reden die Leute.
58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Aufgezeichnet v. Sepp Dreissinger. Salzburg, Wien:
Müry Salzmann 2011, S. 14 – 21, hier S. 19).
98 Peter Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las. [1967] In: P. H.: Ich bin ein Bewoh-
ner des Elfenbeinturms (Anm. 6), S. 211 – 216, hier S. 211.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik240
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471