Seite - 243 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Obschon Handke Kolleritsch vorgeschlagen hatte, er könne den Bernhard-
Aufsatz âals eine Art Besprechungâ drucken, zeigt sich deutlich, dass er die
Anforderungen an das Genre der Rezension â âde[n] Typ der Besprechungâ â
hier demonstrativ nicht zu erfĂŒllen gewillt ist, unterlĂ€sst er doch bewusst jeg-
liche Wertung, jeden expliziten Hinweis darauf, ob er das Buch fĂŒr âgutâ oder
âschlechtâ befinde. Er konzentriert sich vielmehr auf die Schilderung der Erfah-
rungen bei dessen LektĂŒre. Wenn Handke zwei Jahre spĂ€ter in einem Aufsatz
zu Gert Jonkes Geometrischem Heimatroman im Spiegel hervorhebt, â[d]as
Buchâ, das er âgerade gelesen habeâ, sei âkein sehr gutes Buch, auch kein wert-
volles Buch [âŠ] â aber man kann so viele Erfahrungen damit machen, daĂ
man Lust hat, die Erfahrungen zu beschreibenâ,106 ist damit auch die Idee von
Handkes Bernhard-Text (sowie zahlreicher weiterer literaturkritischer Arbeiten
des Autors) treffend charakterisiert. Sein Aufsatz ist â in Abwandlung eines
bereits zitierten Handke-Titels â nicht nur eine Einladung, Thomas Bernhard
zu lesen, sondern auch und im Besonderen eine Ermunterung, sich dem Lesen,
das es dem Einzelnen ermögliche, âgenauer und sensibler existieren [zu] kön-
nenâ,107 anzuvertrauen.
Handke hebt in Als ich âVerstörungâ von Thomas Bernhard las bestimmte
Charakteristika des Romans hervor, um zu zeigen, warum ihm das Buch âkeine
Ruheâ 108 gelassen habe; âder Blick auf die sprachliche Konstruktionâ und die
âemphatische Beteiligung des lesenden Ichâ gehen dabei, so Hans Höller, eine
fĂŒr Handkes Schreiben ĂŒber Literatur signifikante Verbindung ein.109 Die ent-
scheidende QualitĂ€t des Romans liegt fĂŒr Handke indes weniger in Bernhards
inhaltlicher RadikalitĂ€tÂ
â mit der Ingeborg Bachmann das âNeueâ in dessen Lite-
ratur assoziiert hatte 110Â â oder im misanthropischen Pessimismus des Protago-
nisten, vielmehr in der grammatikalischen Form seiner SĂ€tze. Sie verweisen als
âZeichen seiner Verstörungâ 111 auf eine umfassende existentielle Beunruhigung,
106 Peter Handke: In SĂ€tzen steckt Obrigkeit. Ăber G. F. Jonke: Geometrischer Heimatroman. In:
Der Spiegel, Nr. 17, 21. 4. 1969, S. 186 â 188, hier S. 186; dazu u. a. Lorenz: Pro domo (Anm. 7),
S. 409. Ganz in diesem Sinne hatte Handke bereits in seiner ersten gedruckten Rezension,
der 1965 in Wort in der Zeit veröffentlichten Besprechung eines Buches von Ror Wolf, begon-
nen: ââZwischen Suppe und Mund kann sich vieles ereignen.â Es ereignet sich in dem Buch so
vieles zwischen Suppe und Mund, daĂ daraus ein Ereignis wirdâ (Handke: Ror Wolf [Anm.Â
4],
S. 59).
107 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 9), S. 26.
108 Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las (Anm. 98), S. 211.
109 Höller: Wie die Form der Sprache das Denken des Lesens ermöglicht (Anm. 97), S. 82 f.
110 Ingeborg Bachmann: Watten und andere Prosa (ĂŒber Thomas Bernhard). In: I. B.: Kritische
Schriften. Hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. MĂŒnchen, ZĂŒrich: Piper 2005, S.Â
453 â 457,
hier S. 455.
111 Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las (Anm. 98), S. 214.
Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 243
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471