Seite - 244 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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die nicht nur das VerhÀltnis des Individuums zur Welt, sondern im Besonderen
das Problem der sprachlichen Vermittlung dieses VerhĂ€ltnisses betrifft: âWas er
von der AuĂenwelt erwĂ€hnte, war nur ein Zeichen seiner Innenwelt. Der FĂŒrst
sprach nicht in Metaphern, sondern in Zeichen.â 112
Wenn Handke die âEmpfindlichkeitswörterâ und âQualwörterâ 113 des FĂŒrsten
hervorhebtÂ
â man ist unwillkĂŒrlich an Handkes Gedicht Die Reizwörter erinnert,
das ebenso 1967 entstand 114Â â und von Sauraus âgrammatikalische[m] Irrsinnâ
berichtet, der ihn, âwie es bei Schizophrenen ĂŒblich istâ, âneue Wörterâ bilden
lasse,115 zeigt sich auĂerdem Folgendes: Handke schenkt hier jenen Aspekten von
sprachlicher ReprÀsentation besondere Aufmerksamkeit, die auch im Zentrum
seiner eigenen literarischen Arbeiten dieser Jahre stehen â etwa der ErzĂ€hlung
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, an der er Mitte 1968 zu arbeiten beginnt
und die 1970 erscheinen wird. Wenn Bernhards Saurau âganz gegen die Wirk-
lichkeit konstruiert istâ,116 dann interessiert sich Handke gar nicht primĂ€r fĂŒr das
VerhĂ€ltnis von RealitĂ€t und Fiktion, dafĂŒr, ob es eine Figur wie den FĂŒrsten âin
Wirklichkeitâ gibt oder geben könnte. Vielmehr stellt er das Moment der lite-
rarischen Konstruktion sowie die âLogik der grammatikalischen Modelleâ 117 in
den Mittelpunkt. Erst durch die Irritation, die die sprachliche Form des Romans
im Allgemeinen und des âparanoischen Monologsâ 118 des FĂŒrsten Saurau im
Besonderen auslöse, sei es möglich, den aufmerksamen Leserinnen und Lesern
neue Erfahrungen zu vermitteln.
112 Ebd., S. 213.
113 Ebd., S. 212.
114 Vgl. Peter Handke: Die Reizwörter. [1967] In: P. H.: Die Innenwelt der AuĂenwelt der Innen-
welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 87 â 91, hier S. 90: âmein Reizwort ist / jedes Wort /
jedes WortÂ
/ ist ein Reizwortâ.Â
â Bereits zuvor gedruckt in: manuskripte 8 (1968), H.Â
22, S.Â
16 â 17;
Egoist 4 (1968), H. 1, S. 13 â 14.
115 Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las (Anm. 98), S. 214.
116 Ebd., S. 216 (Herv. H. G.).
117 Ebd., S. 213.
118 W. G. Sebald: Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht. Zu Thomas Bernhard. In: W. G. S.: Die
Beschreibung des UnglĂŒcks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzburg,
Wien: Residenz 1985, S.Â
103 â 114, hier S.Â
105. Dass sich nicht nur Handke, sondern auch Bernhard
in der zweiten HÀlfte der 1960er Jahre mit Diskursen der Psychopathologie beschÀftigte, zeigt
ein Brief an Anneliese Botond vom 19. 4. 1966, in dem Bernhard auf Leo Navratils kurz zuvor
erschienene Studie Schizophrenie und Sprache rekurriert (vgl. Anneliese Botond: Briefe an
Thomas Bernhard. Mit unbekannten Briefen von Thomas Bernhard. 1963 â 1971. Hg. v. Raimund
Fellinger. Mattighofen: Korrektur 2018, S.Â
89). Zu Handkes Rezeption der Psychopathologie vgl.
Norbert Christian Wolf: âDie beginnende Schizophrenieâ eines Tormanns. Handkes ErzĂ€hlung
und die Pathographien aus Klaus Conrads Gestaltanalyse des Wahns. In: Schreiben als Welt-
entdeckung (Anm. 29), S. 165 â 200.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik244
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471