Seite - 261 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 261 -
Text der Seite - 261 -
Geschichten aus dem Wiener Wald besteht im Wesentlichen in einem getreuen
Nachvollzug des PrĂ€textes, der sich mit Christoph Bartmann auch als âHom-
mageâ auf das von Handke ĂŒberaus geschĂ€tzte VolkstheaterstĂŒck verstehen
lÀsst.198 Gleichwohl beansprucht er, wie er im bereits zitierten Brief an Unseld
schreibt, mit der Transformation von HorvĂĄths Geschichten in einen fortlaufen-
den Prosatext (wobei er Szenenanweisungen und Figurenreden integriert und
durch Streichungen auch inhaltliche Akzente setzt 199), eine âAnalyse der Form
und des Aufbausâ 200 und eine âBeschreibung der Dramaturgie des StĂŒcksâ 201
vorgenommen zu haben.
Anhand der Paratexte von Totenstille beim Heurigen im 1972 erschienenen
Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms lÀsst sich indes zeigen, dass die
Terminologien und die damit assoziierten Gattungsformen in Handkes Schrei-
ben ĂŒber Literatur keineswegs fest und klar definiert waren. So wird der Begriff
der âNacherzĂ€hlungâ, der in der Titelei der Bibliothek-Suhrkamp-Ausgabe des
HorvĂĄth-StĂŒcks aufscheint 202 und den auch Bartmann und Gabriel zur Charak-
terisierung von Handkes Nachwort verwenden, hier gleichzeitig eingefĂŒhrt und
fĂŒr nicht passend erklĂ€rt: KĂŒndigt die âVorbemerkungâ von Ich bin ein Bewohner
des Elfenbeinturms den HorvĂĄth-Text explizit nicht als âNacherzĂ€hlungâ, sondern
als eine âbewuĂte Auswahl von SĂ€tzen aus dem StĂŒckâ an, âdie damit das darin
formulierte BewuĂtsein kommentieren solltenâ,203 lautet die Genrebezeichnung
im Untertitel des 1972 gedruckten Textes âVersuch einer Analyse mit Hilfe einer
NacherzĂ€hlungâ (in der Erstausgabe 1970 fehlte diese Angabe noch).204 Mag dies
auch auf einen Fehler in der Herstellung des Bandes vonseiten des Verlags zurĂŒck-
gehen, verweist die paratextuelle Inkonsistenz doch auch auf eine (produktive,
weil der Routine entsagende) VariabilitÀt und generische FlexibilitÀt von Peter
Handkes âBegleitschreibenâ:205 eine FlexibilitĂ€t, die in enger Beziehung zu den
Prinzipien seiner literarischen Poetik und Praxis steht.
198 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (Anm. 24), S. 129. Vgl. ebd.: âJe enthusiasmierter die
Reaktion auf Literatur, Filme oder Theater ist, desto weiter tritt ein kritisches Vokabular zurĂŒck,
an dessen Stelle die Beschreibung und NacherzĂ€hlung tritt.â
199 Dazu im Detail Gabriel: Peter Handke und Ăsterreich (Anm. 93), S. 88 â 92.
200 Handke an Unseld, 14. 1. 1970. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 1), S. 160.
201 Handke an Unseld, 8. 2. 1970. In: ebd., S. 163.
202 Vgl. Ădön von HorvĂĄth: Geschichten aus dem Wiener Wald. VolksstĂŒck in drei Teilen mit einer
NacherzÀhlung von Peter Handke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970.
203 Handke: Vorbemerkung (Anm. 39), S. 7.
204 Peter Handke: Totenstille beim Heurigen. Versuch einer Analyse mit Hilfe einer NacherzÀhlung
von Ădön von HorvĂĄths, Geschichten aus dem Wienerwald. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des
Elfenbeinturms (Anm.Â
6), S.Â
217 â 227, hier S.Â
217. Vgl. in der Erstausgabe P. H.: Totenstille beim
Heurigen. In: HorvĂĄth: Geschichten aus dem Wiener Wald (Anm. 202), S. 123 â 137.
205 So lautet nicht nur der Untertitel des 2015 veröffentlichten Bandes Tage und Werke, auch ein Notiz-
heft-Eintrag Handkes aus dem Jahr 1986 nennt den Begriff: âstatt âKritikâ sag: âBegleitschreibenââ
âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 261
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471