Seite - 264 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 264 -
Text der Seite - 264 -
Arbeiten über Bauer, Bernhard oder Lenz signifikant abweicht.215 Er habe vor,
schreibt Handke am 5.
Februar 1975 an Nicolas Born, „etwas über Strucks Buch
Die Mutter [zu] verfassen“, das ihn jedoch, wie er dem befreundeten Autor gesteht,
„ziemlich abstößt“; und er setzt in Klammern hinzu: „(ich habe seit langem wie-
der Lust, auch schriftlich, nicht nur so, böse zu sein)“.216 Einen veritablen Verriss
hatte Handke tatsächlich schon seit einigen Jahren nicht mehr publiziert. Nach
Abschluss der Rezension bat Handke die Redaktion des Spiegels darum, „mit
der Veröffentlichung möglichst lang zu warten – sollte es vorher ähnliche Mei-
nungen schon geben, brauchte man mein Manuskript nicht zu drucken.“ 217 Da
dem offenbar nicht so war, wurde die Besprechung am 17.
März 1975 unter dem
Titel Denunziation ohne Wahrnehmung im Spiegel, für den Struck selbst wenige
Monate zuvor Franz Innerhofers Schöne Tage rezensiert hatte,218 veröffentlicht.
Seinem Verleger kündigte Handke die Rezension betont vorsichtig als „eine
bloße Analyse“, „eine Demystifikation“ des Buches an,219 nicht zuletzt deshalb, weil
der Roman
– wie der Großteil von Handkes eigenem Werk
– im Suhrkamp Verlag
erschienen war und Unseld großen Wert darauf legte, Konflikte zwischen seinen
Autorinnen und Autoren zu vermeiden: „Nun ist Karin Struck aber wesentlich
offener dafür, eine Schriftstellerin zu sein, als die meisten, die sich so bezeich-
nen“, fährt Handke im Brief an Unseld fort, will daraus aber gerade keinen Milde-
rungsgrund für die Besprechung ableiten: „So wollte ich es auch herauskommen
lassen, aber das erschien mir dann als eine Herablassung ihr gegenüber, die sie
nicht benötigt.“ 220 Im Vergleich zu früheren negativen Urteilen über Bücher
von schreibenden Kolleginnen und Kollegen, etwa über den Wellers hoff’schen
Wochenende-Band, weist Denunziation ohne Wahrnehmung einen anderen metho-
dischen Fokus auf, entzünden sich Handkes Einwände an anderen Aspekten. Zielt
die Rezension von Strucks Die Mutter im Sinne seiner theoretischen und kriti-
schen Arbeiten der 1960er Jahre zunächst auf die Reproduktion sprach licher und
narrativer Stereotypen („das Höchstpersönliche als Schema“ 221), bleibt Handke
215 Mixner: Peter Handke (Anm.
10), S.
208, zufolge stellt Handkes Struck-Rezension „[e]ine sehr
präzise Anwendung des aus dem eigenen poetologischen Programm entwickelten kritischen
Verfahrens“ dar. Vgl. dazu auch Struck: Der Begleitschreiber (Anm. 65), S. 20 f.
216 Handke an Born, 5. 2. 1975. In: Born/Handke: Die Hand auf dem Brief (Anm.
206), S.
9. So auch in
Handke an Unseld, 21. 2. 1975. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
1), S.
276: „‚Die Mutter‘
hat mich, vor allem beim zweiten Lesen, abgestossen, und so habe ich es auch geschrieben.“
217 Ebd.
218 Vgl. Karin Struck: Für die Arbeit gezeugt. Über Franz Innerhofer: Schöne Tage. In: Der Spiegel,
Nr. 50, 9. 12. 1974, S. 136 – 139.
219 Handke an Unseld, 21. 2. 1975. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 1), S. 276.
220 Ebd.
221 Peter Handke: Denunziation ohne Wahrnehmung. Über Karin Struck: Die Mutter. In: Der
Spiegel, Nr.
12, 17. 3. 1975, S.
147 – 149, hier S.
147; auch in: P. H.: Das Ende des Flanierens (Anm.
48),
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik264
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471