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Artisten redenâ,246 ebenso wie zu Robert Musils im gleichen Jahr publizierter
Bemerkung ĂŒber Alfred Kerr, wonach âes ĂŒberhaupt bei allen Unterschieden
keine bedeutende Kritik gibt, die nicht Dichtung wĂ€reâ; der âKritikerdichter[Â
]â,
so Musils Charakterisierung von Kerrs SelbstverstĂ€ndnis, sei ein âMensch, der
aus Dichtung wieder Dichtung, gedichtete Kritik machtâ.247 Auf Novalis und
Benjamin, insbesondere auf dessen Passagen-Werk, das eine wesentliche Grund-
lage fĂŒr die âSchwellengeschichteâ Der Chinese des Schmerzes (1983) bildete,
hat sich Handke wiederholt berufen, wĂ€hrend er fĂŒr Musil und insbesondere
fĂŒr den Mann ohne Eigenschaften kaum je besondere Sympathie gezeigt hat.248
Ohne Handke allzu forciert mit den zitierten Autoren in eine Genealogie
der Reflexion ĂŒber die Grenzen von Literatur und Literaturkritik einordnen
zu wollen, ist jedenfalls Folgendes festzuhalten: Auf den Vorwurf, als Kritiker
nur seiner eigenen schriftstellerischen Agenda zu folgen, reagierte Handke mit
dem Hinweis auf die Blindheiten auch âprofessionellerâ Rezensenten. Zudem
beharrte er darauf, als literarischer Autor eine besondere Àsthetische Kompe-
tenz, eine SensibilitĂ€t fĂŒr die Faktur literarischer Texte zu besitzen, an der es den
Berufskritikern mitunter mangle. Seine Reflexionen ĂŒber die Rolle der Kritik
im literarischen Feld und ihre Verfahren berĂŒhren immer auch die Frage nach
den Möglichkeiten âartistischer Kritikâ, zumal Handke deren zentrale AufgabeÂ
â
mit Novalisâ emphatischer Formulierung â durchaus darin sah, Leitlinien und
Orientierungsmarken fĂŒr die zukĂŒnftige âGeschichte der Kunstâ vorzubereiten.
Die literaturkritischen Arbeiten Handkes erweisen sich vor diesem Hintergrund
246 Benjamin: EinbahnstraĂe (Anm. 244), S. 108. Vgl. dazu etwa die Reflexionen ĂŒber âElemente
einer Theorie des Lesens nach Benjaminâ in Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin.
BruchstĂŒcke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 14 â 51.
247 Robert Musil: Heute spricht Alfred Kerr. Ein PortrĂ€t des berĂŒhmten deutschen Kritikers. [1928]
In: R. M.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. II. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2000,
S. 1186 â 1188, hier S. 1188.
248 Vgl. Karl Wagner: Musil und Handke: kein Vergleich. In: Peter Handke. Freiheit des Schrei-
bens â Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus Kastberger unter Mitarb. v. Clemens Ăzelt. Wien:
Zsolnay 2009, S. 294 â 305. Spuren dieser Aversion zeigen sich bereits im 1972 publizierten
Gedicht Leben ohne Poesie: âIm âMann ohne Eigenschaftenâ bin ich bis zuÂ
/ dem Satz gekom-
men / âUlrich sah sich den Menschen anâ / (Auch âden Menschenâ meinte Musil / verĂ€cht-
lich) / da habe ich vor Ekel nicht weiterlesen könnenâ (Peter Handke: Leben ohne Poesie.
[1972] In: P. H.: Als das WĂŒnschen noch geholfen hat [Anm. 43], S. 9 â 23, hier S. 13); in der
Geschichte des Bleistifts greift Handke die Passage aus dem Mann ohne Eigenschaften noch
einmal auf: âNicht âIch sehe mir die Leute anâ (so ungefĂ€hr Musil), sondern: âIch lasse sie,
betrachtend, seinâ (jedenfalls ist das mein Ideal)â (Handke: Die Geschichte des Bleistifts
[Anm. 73], S. 197). Die Stelle findet sich im 81. Kapitel von Musils Opus magnum: âUlrich
sah sich den Menschen an und wahrte Raum zwischen sich und ihmâ (Robert Musil: Der
Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 1. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
1981, S. 349).
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik270
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471