Seite - 309 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Nach einem âkurze[n] Zeitfensterâ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, âin dem
AufklĂ€rung ĂŒber die NS-Verbrechen explizit gefordert wurdeâ und diese strenge
Haltung auch fĂŒr den Literatur- und Kultursektor galt,136 konnten politisch belas-
tete Autorinnen und Autoren nach Amnestieregelungen und der EntschÀrfung
einschlÀgiger Gesetze ab 1948/1949 wieder weitgehend ungehindert in (Salzburger)
Verlagen veröffentlichen, wurden zu Lesungen eingeladen und von offiziellen Stel-
len mit Preisen und Ehrungen bedacht. Klaus Amann hat dieses kulturelle Klima
am Beispiel der Vergabepolitik von Literaturpreisen folgendermaĂen umrissen:
Ăsterreichische Literaturpreise wurden unmittelbar nach dem Krieg nicht, was ja
durchaus im Bereich des Denkbaren lĂ€geÂ
â und was auch fĂŒr ein neues staatliches und
kulturelles SelbstbewuĂtsein Signalfunktion hĂ€tten haben können â, als Instrument
der Wiedergutmachung oder als Anreiz zur Heimholung der vertriebenen und emi-
grierten Autoren verwendet. Ganz im Gegenteil.Â
[âŠ] ReprĂ€sentative österreichische
Literaturpreise gingen denn auch in groĂem Umfang gerade an jene Autoren, die ent-
weder bereits unter dem Austrofaschismus oder unter dem Nationalsozialismus oder
unter beiden Systemen gefördert und ausgezeichnet worden waren.137
In dieser kultur- und gesellschaftspolitischen Situation erwies sich Bernhard
insofern als âKind der Zeitâ,138 als sich der einschlĂ€gige Autorenmix im Salzburg
der 1950er Jahre auch in seinen Rezensionen findetÂ
â die damit die âideologische
Spannbreite des damaligen Lesungs-Angebotsâ 139 idealtypisch abbilden: Erna
Blaas, Gertrud Fussenegger, Linus Kefer, Franz Tumler, Kurt Ziesel oder Ilse
Ringler-Kellner, die 1938 im Bekenntnisbuch Hitlers Mutter dafĂŒr gedankt hatte,
âunserem Volkâ den âHeilandâ geboren zu haben,140 stehen in Bernhards Kritiken
136 Polt-Heinzl: Die grauen Jahre (Anm. 3), S. 42.
137 Klaus Amann: Men for all Seasons. Ăsterreichische LiteraturpreistrĂ€ger der fĂŒnfziger Jahre.
In: K. A.: Die Dichter und die Politik (Anm. 132), S. 219 â 222, hier S. 220 f. Amann nennt als
PreistrÀger der 1950er Jahre u. a. Erna Blaas, Gertrud Fussenegger, Franz Karl Ginzkey, Paula
Grogger, Robert Hohlbaum, Max Mell und Franz Nabl. Vgl. dazu auch Sigurd Paul Scheichl:
Vergessene. TrĂ€ger des GroĂen Ăsterreichischen Staatspreises in den 50er Jahren. In: Literatur in
Ăsterreich von 1950 bis 1965. Walter Buchebner Tagung 1984. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler.
MĂŒrzzuschlag: Walter Buchebner Gesellschaft [1984], S.Â
75 â 91, sowie MĂŒller: Die Bannung der
Unordnung (Anm. 32), S. 183.
138 Joachim Hoell: Thomas Bernhard. MĂŒnchen: dtv 2000, S.Â
52; vgl. Billenkamp: Thomas Bernhard
(Anm. 14), S. 57.
139 Mittermayer: âDie brennende hilfesuchende Glutâ (Anm. 31), S. 208.
140 Ilse Ringler-Kellner: An die Mutter des FĂŒhrers. In: Bekenntnisbuch österreichischer Dichter
(Anm. 32), S. 85. Bernhards Lesungsbericht nimmt sich durchwegs positiv aus: âEs war ein
glĂŒcklicher Gedanke der Volkshochschule, die böhmische Lyrikerin Ilse Ringler-Kellner zu einer
Lesung einzuladen.â (TBW 22.1, 161) Die Veranstaltung im MĂ€rz 1953 wurde sinnfĂ€lligerweise
von Adalbert Schmidt, selbst prominenter Akteur im NS-Wissenschaftsbetrieb, moderiert.
Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 309
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471