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1953.190 WĂ€hrend in der Kunsttheorie der Moderne, wie Boris Groys gezeigt hat,
die âAbwertung der bestehenden kulturellen Werteâ ein ânotwendiger Aspekt des
innovatorischen Gestusâ ist,191 stand der junge Kulturjournalist diesem Konzept
anfangs noch denkbar fern. In seinen Feuilletons, Veranstaltungsberichten und
volkskundlichen Reportagen sieht er die zentrale QualitÀt eines Kunstwerks eben
nicht in der ânegativen Anpassung an die kulturelle Traditionâ,192 sondern in deren
entschiedener Fortschreibung: âZweifellosâ zĂ€hlte er, so Michael Billenkamp
mit Blick auf Bourdieus Unterscheidung von âOrthodoxieâ und âHĂ€resieâ,193 âzu
Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn eher zur Gruppe der Bewahrer als
zu den HĂ€retikern.â 194 In einem Bericht ĂŒber eine Vortragsreihe der Salzburger
Volkshochschule vom 23. April 1954 fallen SĂ€tze, die fĂŒr Bernhards damaliges
VerstÀndnis von kultureller Genealogie bezeichnend sind. Es sei, wie der junge
Rezensent in etwas altvÀterlichem Gestus formuliert,
gerade heute von unabschĂ€tzbarer Wichtigkeit, die groĂen Geister der Vergangenheit
in ein neues Licht zu rĂŒcken, und jeden einzelnen von uns mit ihrem Fundament
vertraut zu machen. Erst wenn wir einigermaĂen die Bedeutung und den Geist der
GeschichtstrĂ€ger erfaĂt haben, können wir den entscheidenden Schritt in die Gegen-
wart und in die Zukunft unternehmen. (TBW 22.1, 362)
Bereits im MÀrz 1953 hatte Bernhard jedoch anlÀsslich einer Lesung von Rudolf
Bayr â mit dem er mehr als zwei Jahrzehnte spĂ€ter ein Fernsehinterview fĂŒh-
ren sollte â auch eine kritischere Perspektive auf die âGeister der Vergangen-
heitâ angedeutet.195 Die von Bayr vorgetragenen Texte seien âgeschöpft aus
190 Laut Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm.Â
28), S.Â
148, handelt es sich dabei um einen recht
âseltsame[n] Essay, in dem unausgewiesene Tatsachenbehauptungen, Gegenwartsdeutungen
und autobiographische, nur die eigene Person betreffende ĂuĂerungen kunterbunt durchein-
ander laufenâ.
191 Boris Groys: Ăber das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. MĂŒnchen: Hanser 1992, S. 63.
192 Ebd., S. 19.
193 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S.Â
329; ders.: Das literarische Feld. Kritische Vorbemerkungen
und methodologische GrundsĂ€tze. In: P. B.: Kunst und Kultur. Kunst und kĂŒnstlerisches Feld.
Schriften zur Kultursoziologie 4. Hg. v. Franz Schultheis u. Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp
2015, S. 309 â 337, hier S. 316; dazu Christine Magerski: Theorien der Avantgarde. Gehlen â
BĂŒrger â Bourdieu â Luhmann. Wiesbaden: Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2011, S. 85 f.
194 Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm. 14), S. 372 f. Vgl. auch ders.: Provokation und posture
(Anm. 37), S. 28: âBernhard betritt die literarische BĂŒhne [âŠ] nicht, wie es das SpĂ€twerk [âŠ]
vermuten [lĂ€sst], als RevolutionĂ€r und provokanter AvantgardekĂŒnstler, sondern er sieht seine
kĂŒnstlerische Heimat in der NĂ€he der orthodoxen Bewahrer heimatlicher Dichtung.â
195 Vgl. zu diesem Text Mittermayer: âDie brennende hilfesuchende Glutâ (Anm. 31), S. 207,
der zudem darauf hinweist, dass Bayr â ebenso wie Josef LaĂl â âin jungen Jahrenâ als
Alte Zöpfe, neue Pferde 325
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471