Seite - 331 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Wir warten. Wir warten noch immer darauf, daß das Salzburger Landestheater endlich
einmal ein Theaterstück herausbringt, das in den Kulturspalten diskutabel ist. Seit
zwei Jahren warten wir auf das entsprechende Stück und auf die entsprechende Insze-
nierung, und das Unbehagen wird mit jedem Theatersemester größer. Bald wird auch
der letzte Hoffnungsschimmer geschwunden sein und die Bretter rechts der Salzach,
die Bretter dieses einzigartigen österreichischen Kammertheaters, werden nur noch
ein Rummelplatz des Dilettantismus sein. (TBW 22.1, 411)
In der Zeit abseits der Salzburger Festspiele sinke das im Landestheater ange-
botene Programm auf das „Niveau einer Bauernbühne“ herab; dem „wenn auch
nicht immer kulturfreundlichen, so doch durchaus nicht kulturfeindlichen“ Publi-
kum der Stadt setzte man „nichts als sauer gewordene Schlagobersmärchen“ vor:
„Dieses Haus krankt an chronischer Phantasielosigkeit und an einem unnach-
ahmlichen Mißmut.“ (TBW 22.1, 411 f.) Die unverhohlene Kritik am Spielplan
des Landestheaters hatte sich gut eineinhalb Jahre zuvor in einem Bericht für die
Salzburger Nachrichten (24. Mai 1954) bereits sanft angedeutet. Bernhard hatte
darin eine Aufführung von Hubert Marischkas Operette Walzerkönigin als „süße
Windbäckerei mit Schlagobersschaum“ abqualifiziert (TBW 22.1, 377), ansonsten
aber einen noch deutlich weniger aggressiven Ton angestimmt. Mit anhaltender
Kritik hatte sich das Landestheater schon in den Jahren zuvor konfrontiert gese-
hen: Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre wurde die Programmgestaltung
des Hauses und die künstlerische Qualität der Inszenierungen in der Salzburger
Presse wiederholt kontrovers diskutiert; der 1951 neu berufene Intendant Peter
Stanchina indes wies nach seinem Amtsantritt ein ums andere Mal auf die prekäre
finanzielle Lage des Theaters und die damit einhergehenden Beschränkungen hin.216
Im Dezember 1955 empfahl der zum Polemiker gereifte Bernhard Stanchina
nun – wohl unter dem Eindruck seines kurz zuvor begonnenen Studiums am
Mozarteum
– „als letzte Medizin“ „ein Lexikon der Theaterliteratur, darin Namen
stehen wie Williams, Faulkner, Eliot, Miller, Andres [?] und alle die österreichi-
schen Dichter, deren Werke jenseits der Grenzen wesentlich wurden“ (TBW 22.1,
412). Die Attacke zog nicht nur verwunderte bis erboste Reaktionen nach sich,
wie die des Journalisten Kurt Kutschera, der im Salzburger Volksblatt fragte, was
„in den guten Jungen nur gefahren sein mag“,217 sondern auch einen Gerichtspro-
zess wegen übler Nachrede, der erst 1959 nach mehreren Instanzen mit einem
Vergleich endete.218 In einer 1969 in der Zeitschrift Theater heute publizierten
216 Vgl. ausführlich Waitzbauer: Thomas Bernhard in Salzburg (Anm. 47), S. 122 – 127.
217 Hans Kutschera: Thomas Bernhard „furchte“. In: Salzburger Volksblatt, 7. 12. 1955. Vgl. den
Kommentar in TBW 22.1, 787.
218 Vgl. Sehr geschätzte Redaktion (Anm. 55), S. 9 – 16; Mittermayer: Thomas Bernhard [2015]
(Anm. 25), S. 98 f. „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 331
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471