Seite - 336 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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gehört es auch nicht mir, deswegen habe ich es nicht geöffnet, sagte Thomas. Das
kannst du aber behalten, sagte Musulin. Jetzt gehört es mir, jetzt öffne ich es, sagte
Thomas und entfernte die Hülle.233
Weder das von Musulin vorgeschlagene Buch des irischen Autors Brown noch
irgendein anderes literarisches Werk sollte Bernhard in den folgenden Jahren
rezensieren. Auf Siegfried Unselds Vorschlag, zu Ludwig Hohls Band Vom Erreich-
baren und Unerreichbaren in der „Bibliothek Suhrkamp“ ein Nachwort zu verfas-
sen, ging er Anfang 1972 zwar zunächst ein,234 zog seine Zusage aber kurz darauf
ohne nähere Begründung zurück: „[I]ch werde nicht über Hohl schreiben.“ 235
Auf eine von den Bremer Nachrichten veranstaltete Umfrage, welche Veröffent-
lichungen der aktuellen Buchsaison er zur Lektüre empfehlen könne, bekun-
dete er im Dezember 1976, „kein einziges seit 1975 erschienenes Buch gelesen“
zu haben und deshalb auch „kein solches Buch empfehlen“ zu können: „[A]ber
wenn die Pensées des Pascal erst nach 1975 erschienen wären, was nicht der Fall
ist, würde ich die Pensées empfehlen.“ (TBW 22.1, 615) Lediglich für einen 1987
bei Suhrkamp gedruckten Auswahlband mit Gedichten von Christine Lavant
sollte Bernhard eine Ausnahme von seiner sonstigen Regel machen, keine Texte
über andere Autorinnen und Autoren zu schreiben. Sein Nachwort zu dem in
der „Bibliothek Suhrkamp“ veröffentlichten Lyrikband umfasste freilich nur eine
„Notiz“ von zehn Zeilen – und es kann kaum als ernsthafter literaturkritischer
Kommentar zu Lavants Werk gelten:
Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod
weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst
gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es
ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als
große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist. Diese
Auswahl folgt nur meinem Verstand, keinem andern.236
233 Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 111), S. 441 (Eintrag v. 9. 10. 1972).
234 Vgl. ebd., S.
74 (Eintrag v.
27. 1. 1972): „Dann erzählt mir Thomas noch von einem zweiten Brief,
den er heute bekommen hat. Vom Verleger Unseld! Zwei Zeilen. Unseld ersucht mich, das ihm
versprochene Nachwort für Ludwig Holl (oder ähnlicher Name) zu schreiben. Nur ganz kurz.
Ich sage: Bist du wahnsinnig, das Nachwort bekommt er nicht! Du wirst doch nicht von deinen
Grundsätzen abgehen, das hast du doch noch nie gemacht.“
235 Bernhard an Unseld, 3. 2. 1972. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
36), S.
258. Später
nahm sich Handke des Schweizer Autors an und hielt u. a. 1980 die Rede zur Verleihung des
Petrarca-Preises an Hohl. Vgl. Peter Handke: Ein Gruß an Ludwig Hohl. In: P. H.: Das Ende
des Flanierens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 162 – 163.
236 Thomas Bernhard: Notiz. In: Christine Lavant: Gedichte. Hg. v. T. B. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1987, S. [91].
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker336
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471