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Ebenso unabhängig von allen ökonomischen Rücksichten ist der pensio-
nierte Musikphilosoph und Musikkritiker Reger in Alte Meister (1985). Gleich
eingangs wird er von seinem Adlatus Atzbacher als „Musikwissenschaftler im
eigentlichsten Sinne des Wortes“ vorgestellt; „mit allen diesen musikfeuille-
tonistischen Schwätzern, wie sie hier tagtäglich in den Tageszeitungen ihren
Geschwätzschmutz ausbreiten“, sei er, so Atzbacher, „nicht zu vergleichen“: „Seit
über dreißig Jahren schreibt Reger seine Kritiken für die Times, diese kleinen
musikphilosophischen Aufsätze, die eines Tages sicher in einem Buch gesammelt
erscheinen werden.“ (TBW 8, 14)247 In seiner Heimat Wien sei der mittlerweile
82-Jährige beinahe unbekannt und genieße nicht die ihm gebührende Wert-
schätzung: „Davon, daß Reger für die Times seine Musikkritiken schreibt, weiß
in Österreich niemand, höchstens ein paar Leute wissen davon“; während man
hierzulande Reger kaum wahrnehme, wisse man „in London und in England
und selbst in den Vereinigten Staaten“, „um was für eine Kapazität es sich bei
Reger handelt“ (TBW 8, 14 f.).248
Von der außerordentlichen „Qualität“ seiner „Kritiken für die Times“, für die
er bereits „seit vierunddreißig Jahren“ schreibe (TBW 8, 19), ist Reger selbst über-
zeugt, von der gängigen Praxis des Schreibens über Kunst im Feuilleton und in
den Wissenschaften aber ganz und gar nicht: Die „Kunsthistoriker“ denunziert
er als „Kunstvernichter“, die „so lange über die Kunst“ reden, „bis sie sie zu Tode
geschwätzt haben“: „Wenn wir einem Kunsthistoriker zuhören, wird uns übel,
sagte er, indem wir einem Kunsthistoriker zuhören, sehen wir, wie die Kunst, die er
beschwätzt, vernichtet wird, mit dem Geschwätz des Kunsthistorikers schrumpft
die Kunst und wird vernichtet.“ (TBW 8, 23 f.) Er selbst charak
terisiert sich in
der Folge als universell gebildeter Kritiker, der sein Urteilsvermögen besonders
im Vergleich der einzelnen Kunstsparten (Musik, bildende Kunst, Literatur)
geschult, dem sein ‚Amt‘ aber zugleich die Freude am Erlebnis der Kunst nach
und nach vergällt habe:
Wehe, Sie lesen eindringlicher, Sie ruinieren sich alles, was Sie lesen. Es ist ganz gleich,
was Sie lesen, es wird am Ende lächerlich und ist am Ende nichts wert. Hüten Sie
247 Atzbachers Bemerkung verweist nicht zuletzt auf die Dichotomie von ephemerem, schnell der
Vergessenheit anheimfallendem Tagesjournalismus auf der einen und beständiger Buchpubli-
kation auf der anderen Seite.
248 Die folgende Schilderung von Regers Position im gesellschaftlichen Abseits erinnert nur zu
deutlich an Bernhards eigene Stilisierung zum Außenseiter des Literaturbetriebs: „Nur Leute
wie Reger, die man an einer einzigen Hand abzählen kann in diesem fürchterlichen Land, über-
stehen diesen Zustand der Herabsetzung und des Hasses, der Unterdrückung und der Ignora-
tion, der allgemeinen geistesfeindlichen Gemeinheit, der hier in Österreich überall herrscht,
nur Leute wie Reger, die einen großartigen Charakter haben und tatsächlich einen scharfen
unbestechlichen Verstand.“ (TBW 8, 15 f.)
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker340
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471