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Herbst 1971 bestehende SPÖ-Alleinregierung gemünzt.6 Der Salzburger Residenz
Verlag hatte aufgrund von rechtlichen Bedenken davon Abstand genommen,
Bernhards Anmerkungen über „das Land meiner Eltern“, „das geliebte, genauso
gehaßte Österreich“ (TBW 22.1, 617), in die von Jochen Jung herausgegebene
Anthologie Glückliches Österreich. Literarische Besichtigungen eines Vaterlands
(1978) aufzunehmen. Der Autor publizierte sie deshalb am 17.
Februar 1978 unter
dem Titel Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter in der Hamburger ZEIT, dem
neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wichtigsten Organ für Bernhards
Polemiken außerhalb seines Heimatlandes: „Die brutalen, skrupellosen Klein-
bürger“, heißt es dort,
die in den letzten Jahrzehnten mit Leichtigkeit auf der Heuchelleiter in diesem
Land in die Höhe und bis in das Parlament und auf den Ballhausplatz [i. e. der Sitz
des Bundeskanzlers Bruno Kreisky (1970 – 1983)] und in die Hofburg [i. e. der Sitz
des Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger (1974 – 1986)] gekommen sind, haben
es mit dem von Natur aus gleichmütigen und in sich gleichgültigen Volke leicht.
(TBW 22.1, 618)7
Bernhards Polemik wendet sich zunächst gegen die „stickige Atmosphäre der
Geistfeindlichkeit und der Gefühlsroheit“ in Österreich, gegen „Stumpfsinn
und Niedertracht“ (TBW 22.1, 617). Sie bedient in der Folge aber auf bedenk-
liche Weise Ressentiments gegenüber der parlamentarischen Demokratie, greift
neben den damals an der Spitze des politischen Systems stehenden Personen
auch die demokratischen Institutionen per se an. Der österreichische National-
rat, so heißt es in Bernhards Wutrede – die sich, wie andere öffentliche State-
ments des Autors, durch einen „offensive[n] Verzicht auf Differenzierung“ 8
auszeichnet –, sei
6 Mit der Nationalratswahl vom 10. Oktober 1971 hatten die Sozialisten unter Kreisky erstmals
die absolute Mehrheit an Sitzen im Parlament erreicht, beim vier Jahre später abgehaltenen
Urnengang wurde diese mit leichten Zugewinnen bestätigt.
7 Der Text wurde in Auszügen in einem Sonderheft der Zeitschrift Theater heute abgedruckt.
Siehe Peter von Becker: Bei Bernhard. Eine Geschichte in 15 Episoden. In: Theater 1978. Sonder-
heft der Zeitschrift Theater heute. Bilanz und Chronik der Saison 77/78 (1978), S. 80 – 87, hier
S.
84; dort mit dem Hinweis versehen: „Sein Beitrag für eine Österreich-Anthologie wurde vom
Salzburger Residenz Verlag abgelehnt.“ (Ebd.)
8 Andreas Dorschel: Lakonik und Suada in der Prosa Thomas Bernhards. In: Thomas Bernhard
Jahrbuch 2007/2008, S. 215 – 233, hier S. 226. Einem „konkreten Gespräch“ über politische
Themen, etwa über die Person Kreiskys, habe sich Bernhard, so Viktor Hufnagl, stets verwehrt
(Viktor Hufnagl: Sie hat sich total in den Thomas verknallt. In: Was reden die Leute. 58
Begeg-
nungen mit Thomas Bernhard. Aufgezeichnet v. Sepp Dreissinger. Salzburg, Wien: Müry Salz-
mann 2011, S. 100 – 105, hier S. 103).
Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 345
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471