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Texten vor allem Bernhardâsche Protagonisten, die sich abschĂ€tzig ĂŒber Demo-
kratie und Parlament Ă€uĂern â etwa der Maler Strauch in Frost (1963), der die
âDemokratieâ als den âgröĂte[n] Schwindelâ bezeichnet und seiner anarchistisch
grundierten âAbscheu gegen den Staatâ Ausdruck verleiht (TBW 1, 282 u.Â
324)Â
â,12
bedient sich hier der Autor selbst dieses bedenklichen Repertoires.
Im Juni 1979 attackierte Bernhard in einem Leserbrief an die ZEIT den lang-
jĂ€hrigen Bundeskanzler als einen âSalzkammergut- und Walzertitoâ, der sich zwar
mit der LektĂŒre Robert Musils brĂŒsteÂ
â Kreisky hatte wiederholt den Mann ohne
Eigenschaften als sein âLieblingsbuchâ genannt 13Â
â, im Grunde aber nur noch die
âRolle des alternden, selbstgefĂ€lligen Staatsclownsâ spiele:
die skeptische Hoffnung. Thomas Bernhard und Wolfgang Koeppen: Nachdenklicher RĂŒck-
griff auf die Jugend. In: Die Weltwoche, 19. 1. 1977).Â
â Im Zuge der Diskussionen um Bernhards
Kreisky-Rezension im profil konstatierte der ORF-Intendant Wolf In der Maur, an dem âJar-
gonâ, den Bernhard verwende, seien âsowohl die Weimarer Republik als auch die erste österrei-
chische Republik zugrunde gegangenâ, ja er bezeichnete in einem Statement in den Salzburger
Nachrichten Bernhards Polemik gegen Kreisky als âepigonale[n] StĂŒrmer-Artikelâ, setzte sie
also explizit mit der Rhetorik der nationalsozialistischen Hetzpresse in eins (zit. nach: Sehr
geschĂ€tzte Redaktion [Anm. 4], S. 124 u. 130). â Der deutsche Autor Herbert Rosendorfer hat
Bernhard gar einen âKryptofaschist[en]â genannt (zit. nach der O-Ton-Sammlung in: Thomas
BernhardÂ
â eine EinschĂ€rfung. Hg. v. Joachim Hoell, Alexander Honold u. Kai Luehrs-Kaiser.
Berlin: Vorwerk 8 21999, S. 31).
12 Vgl. etwa Sauraus umfassende Ablehnung staatlicher Organisation in Verstörung (1967): âMeine
Lieblingswortzusammenstellung in letzter Zeit, lieber Doktor, ist: Der Staat ist morsch. Alles ist
nichts, sage ich zu Huber: die Roten sind nichts und die Schwarzen sind nichts, die Monarchie
ist natĂŒrlich nichts und die Republik ist natĂŒrlich nichts.â (TBW 2, 103 f.)Â â Siehe dazu auch
die ĂuĂerung des Musikphilosophen Reger in Alte Meister (1985): âUnd ĂŒberall dieses ekel-
erregende Demokratiegefasel! [âŠ] An der Spitze unseres Staates stehen Politiker als Staaten-
mörder, sagte er, das ist die Wahrheit. Jeder Kanzler und jeder Minister ist ein Staatenmörder
und damit auch ein Landesmörder, sagte Reger, und geht der Eine, kommt der Andere, sagte
Reger, geht der eine Mörder als Kanzler, kommt schon der andere Kanzler als Mörder, geht der
eine Minister als Staatenmörder, kommt schon der andere.â (TBW 8, 133 f.) Wenn Reger in der
Folge die österreichischen Politiker als âDemokratiemiĂbraucherâ (TBW 8, 134) bezeichnet,
deutet sich allerdings an, dass die Polemik sich weniger gegen das demokratische System an
sich, sondern vor allem gegen dessen Akteure richtet.
13 Vgl. Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky. Die Biografie. St.Â
Pölten, Salzburg: Residenz 2010, S.Â
54,
67 u. 193 f. â Es wird kolportiert, Kreisky habe im skandinavischen Exil, âkaum des Schwe-
dischen mĂ€chtig, damit angefangen, einige Kapitel Musil zu ĂŒbersetzenâ (Rolf Schneider:
Das revolutionĂ€re Fragment. Ăber Robert Musil: Gesammelte Werke. In: Der Spiegel, Nr. 24,
12. 6. 1978, S. 211 â 213, hier S. 211). Vgl. noch ein Interview mit Schneider aus dem Jahr 2013:
âBruno Kreisky, was kaum jemand weiĂ ist [sic], hat wĂ€hrend seines Exils angefangen, Robert
Musil ins Schwedische zu ĂŒbertragen.â (Adelbert Reif: âDas Identische und das Andersartigeâ.
GesprÀch mit Rolf Schneider. In: Der Standard, 2. 3. 2013) Zu Schneiders BeschÀftigung mit
Musil vgl. jetzt Marion Schmaus: Literarische Rezeption. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg.
v. Birgit NĂŒbel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston: de Gruyter 2016, S. 825 â 854, bes.
S. 839 â 841. Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 347
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471