Seite - 348 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 348 -
Text der Seite - 348 -
Seit vielen Jahren behauptet unser Bundeskanzler Kreisky bei jeder ihm passend
erscheinenden Gelegenheit, er kenne Robert Musil wahrscheinlich besser als irgend-
ein anderer Zeitgenosse, weil er glaubt, das beweise sein hohes Geistesniveau, aber es
beweist doch nur, daß er ein Kleinbürger ist. (TBW 22.1, 655)14
Der Autor reagierte mit seinem Brief an die Wochenzeitung auf ein seines Erach-
tens „blödsinniges Feuilleton“ über Kreisky, das kurz zuvor im ZEITmagazin
gedruckt worden war; „und das hab’ ich halt widerlegt“, so Bernhard im Gespräch
mit André Müller, „und geschrieben, daß er ein alter seniler Pimpf ist“ (TBW
22.2, 509).15 Erst nachdem sich Bernhard bei Müller beklagt hatte, dass der Leser-
brief „in der Versenkung verschwunden“ und wohl aus Rücksicht auf Kreisky
„nicht gedruckt“ worden sei (TBW 22.2, 158), rang sich die Hamburger Zeitung
zur Veröffentlichung der Polemik gegen den österreichischen „Abonnement-
bundeskanzler“ (TBW 22.1, 655) durch.
In der Schlusswendung seines Leserbriefs bringt Bernhard einen Aspekt ins
Spiel, der in seinen späteren Attacken gegen Bruno Kreisky eine wichtige Rolle
spielen sollte: den Vorwurf, die Politik, die der Sozialdemokrat und seine Partei
verfolgten, sei von der ursprünglichen Idee des Sozialismus längst abgewichen.
Bernhard überführt seine ohne genauere Argumente auskommende Diagnose
in ein Bild aus dem ihm wohlbekannten Lebensmittelhandel:
Der Kommis Kreisky, ein echter Nestroy, also eine Figur der Weltliteratur, wenn auch
wahrscheinlich nicht der Weltgeschichte, behauptet, er führe einen phantastischen
Laden, während er doch ganz genau weiß, daß er bankrott ist und daß die Regale leer
sind. Nicht ein einziges Sackerl echten unverfälschten Sozialismus ist nicht einmal
mehr in der untersten Lade. (TBW 22.1, 656)
Knapp eineinhalb Jahre später, im November 1980, entwarf Bernhard 16 im
Gespräch mit der ORF-Journalistin Krista Fleischmann spaßeshalber den Plan für
„ein Weltstück“, in dem neben zahlreichen anderen prominenten Protagonisten
14 Zu Kreiskys Verwurzelung im intellektuellen Großbürgertum und seiner dadurch (sowie durch
seine jüdische Herkunft) erschwerten Karriere in der Sozialistischen Partei vgl. Oliver Rathkolb:
Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010. Innsbruck, Wien: Haymon 2011, S. 134 f.
15 Dieser Teil des Gesprächs mit André Müller, dessen gekürzte Version in der ZEIT vom 29. 6. 1979
gedruckt wurde (vgl. TBW 22.2, 150 – 163), wurde erst nach Bernhards Tod im folgenden Band
publiziert: André Müller: Im Gespräch mit Thomas Bernhard. Weitra: Bibliothek der Provinz
1992, S. 33 – 87. Vgl. den Kommentar in TBW 22.2, 490 – 511.
16 Die Datierung des Gesprächs, das erst am 11. 2. 1981, also erst nach Bernhards Rezension des
Kreisky-Bandes, ausgestrahlt wurde, folgt dem Kommentar in TBW 22.2, 514, bzw. der Angabe
in: Thomas Bernhard – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Wien: Edition S
1991, S. 8.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard348
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471