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folgenden Jahren vor allem in diesem Spannungsfeld operieren: zwischen dem
Einwand gegen die politische Bewegung an sich und dem Vorwurf an dessen
gegenwärtige Interpretation, die als bloßer „Pseudosozialismus“ (TBW 9, 506)
einen Abfall von der eigentlichen Lehre darstelle. Auch in der Anfang der 1980er
Jahre entstandenen, aber erst 1986 als letzte umfangreiche Prosaarbeit Bernhards
publizierten Auslöschung spricht der zentrale Protagonist Franz-Josef Murau in
diesem Sinne vom „gigantischsten aller politischen Mißbräuche“ (TBW 9, 94),
der den von ihm
– so hat es jedenfalls den Anschein
– eigentlich in Ehren gehal-
tenen Sozialismus besudelt habe:
Bis jetzt habe ich immer geglaubt, dieser sogenannte Sozialismus sei eine harmlose,
vorübergehende politische Nervenkrankheit, hatte ich zu Gambetti gesagt, aber in
Wahrheit und tatsächlich ist er tödlich. Ich meine den heute herrschenden Sozialis-
mus, der nur geheuchelt ist, Gambetti, den verlogenen, den impertinent vorgetäusch-
ten, das sollten Sie wissen. Wie diese heutigen Sozialisten keine tatsächlichen sind,
sondern geheuchelte, verlogene, vorgetäuschte. Dieses Jahrhundert hat es zustande
gebracht, das Ehrenwort Sozialismus in einer Weise in den Schmutz zu ziehen, daß es
geradezu zum Erbrechen ist, hatte ich zu Gambetti gesagt. Die an den tatsächlichen
Sozialismus gedacht und an ihn geglaubt haben für die Ewigkeit, würden sich im
Grab umdrehen, wenn sie sehen könnten, was ihre widerwärtigen Nachfolger aus
ihm gemacht haben. (TBW 9, 93)
Hatte Bernhard seinen Verleger im Herbst 1972 zum Wahlerfolg des Sozialde-
mokraten Willy Brandt „beglückwünsch[t]“, weil damit nicht nur Deutschland,
sondern „das ganze darauf ausgerichtete Europa“ einen neuen „Geburtstag“ gefei-
ert habe,21 ja noch 1981 die Wahl des Sozialisten François Mitterand als „Jubeltag
für ein neues Frankreich“ wohlwollend zur Kenntnis genommen,22 polemisierte
Bernhard mit der Zeit immer heftiger vor allem gegen die österreichische Sozial-
demokratie: „Kein Wort ist mir ekelhafter geworden, als das Wort Sozialismus,
wenn ich denke, was aus diesem Begriff gemacht worden ist“ (TBW 6, 40), so
der Erzähler im 1983 gedruckten Prosatext Der Untergeher:
Der Staat sei bankrott, sagte ich, dazu schüttelte sie den Kopf, die Regierung sei
korrupt, sagte ich, die Sozialisten, die jetzt schon dreizehn Jahre an der Macht seien,
hätten diese Macht bis zum äußersten ausgenützt und den Staat vollkommen rui-
niert.
[…] Und auf das Wort Sozialismus, sagte ich, fallen vor allem die Österreicher
immer noch herein, obwohl jeder weiß, daß das Wort Sozialismus seinen Wert verloren
21 Bernhard an Unseld, 22. 11. 1972. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 2), S. 325.
22 Bernhard an Unseld, 21. 6. 1981. In: ebd., S. 634.
Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 351
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471