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gearbeitet worden, das Alte war klĂ€gliches Zeug.â 121 Die bestĂ€ndige Selbstkritik
des Autors forderte ihn zu immer neuen Ăberarbeitungen heraus; diese haben,
um eine Bemerkung von Ernst Osterkamp aufzugreifen, nicht unwesentlich zur
âstilistischen Verkauztheitâ 122 des Witiko beigetragen. Und: Es waren gerade diese
AnkĂŒndigungen von âNeuschriftâ, âUmĂ€nderungâ und âAusfeilungâ,123 die die
Verleger Stifters und Bernhards, Gustav Heckenast und Siegfried Unseld, im 19.
wie im 20. Jahrhundert gleichermaĂen der Verzweiflung nahe brachten.
Bernhard, dessen Protagonist Reger in Alte Meister (1985) zÀhneknirschend
eingestehen muss, mit dem âProvinzdilettant[en]â Stifter âverwandtâ zu sein
(TBW 8, 47 u. 62),124 inszeniert im und um den zehn Jahre davor erschienenen
Roman Korrektur eine Problematik, die einige ihrer Parameter mit den Schreib-
und Ăberarbeitungsnöten Stifters teilt, verschiebt diese aber durch Zuspitzung
und Radikalisierung noch stÀrker ins Existentielle, ins Existenzbedrohende. Im
Gewand der Fiktion reflektiert Bernhard nicht nur den wechselvollen Entste-
hungsprozess des Buchs selbst,125 sondern er stellt den Drang zum fortwÀhrenden
Korrigieren ganz allgemein ins Zentrum der Romanhandlung. Der ErzÀhler der
Korrektur schildert, gestĂŒtzt auf den Nachlass seines Freundes Roithamer, den
Prozess der Bearbeitung eines Manuskripts als unabschlieĂbare bzw. nur mit der
vollstÀndigen Durchstreichung des Werks, seiner Vernichtung, zu bewerkstelli-
gende Destruktionsbewegung.126 Er fasst den Entschluss, durch die âsogenannte
121 Stifter an Heckenast, 4. 2. 1866. In: ebd., S. 148.
122 Ernst Osterkamp: Ist da ein Mensch? Was geschieht, wenn man dem eigenen Lieblingsbuch,
dem Nachsommer, untreu wird und Adalbert Stifters Witiko liest. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 5. 8. 2017.
123 Stifter an Heckenast, 6. 10. 1865. In: Stifter: SÀmmtliche Werke. Bd. 21 (Anm. 116), S. 28.
124 Zur âunerhörte[n] NĂ€he und Verwandtschaftâ zwischen Bernhard und Stifter vgl. Arnold
Stadler: Mein Stifter. PortrĂ€t eines Selbstmörders in spe und fĂŒnf Photographien. Köln: DuMont
2005, S. 164 u. passim; zu Bernhards Polemiken gegen Stifter auĂerdem Markus Kreuzwieser:
Epochendialoge. Noch einmal: Adalbert Stifter und die Gegenwartsliteratur unter besonderer
BerĂŒcksichtigung der Stifter-LektĂŒren Thomas Bernhards. In: ide. Informationen zur Deutsch-
didaktik 29 (2005), H. 1, S. 82 â 95; Stefan Krammer: Bernhards unsanftes Gesetz. Ein Stifter-
experiment. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/2006, S. 75 â 85.
125 Vgl. den Kommentar in TBW 4, 321: â[D]er Blick in die Verlagskorrespondenz zeigt, daĂ die
im Roman thematisierten Fragen nicht beliebig gewÀhlt wurden, sondern in entscheidenden
PunktenÂ
â von den Schwierigkeiten mit dem Verfassen einer Schrift, insbesondere deren Beginn
und AbschluĂ, bis zur richtigen Verwendung von Textfragmenten â frappante Parallelen zur
Entstehungsgeschichte aufweisen.â Bernhard habe die Entstehung und Ăberarbeitung des
Romans seinem Verleger gegenĂŒber âmit SĂ€tzenâ beschrieben, âdie direkt aus dem Roman zu
stammen scheinenâ (TBW 4, 335).
126 GöĂling: Thomas Bernhards frĂŒhe Prosakunst (Anm. 113), S. 314, hat darauf hingewiesen,
dass â aller Korrektur-Rhetorik Bernhards zum Trotz â der Roman neben âsemantische[n]
und syntaktische[n] IrregularitĂ€tenâ auch eine Reihe âinhaltlicher WidersprĂŒcheâ aufweist; dies
fĂŒhre, so GöĂling, zur Frage, âinwieweit solch unkontrolliertes Zerbersten des FiktionsgefĂŒges
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard380
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471