Seite - 381 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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letztwillige VerfĂŒgungâ dazu ermĂ€chtigt, den Nachlass Roithamers âzu sichten und
zu ordnenâ und zudem âauch gleich ĂŒber diese BeschĂ€ftigung zu schreibenâ (TBW
4, 7); der Roman stellt gewissermaĂen das Protokoll dieser Aufarbeitung dar. Wie
nicht selten bei Bernhard sind es in Korrektur der Tod eines Menschen und die
Notwendigkeit, sich mit dessen Hinterlassenschaft auseinanderzusetzen, die am
Beginn der Handlung stehen; bereits in der ErzÀhlung Ungenach (1968) ist dies
der Fall, in Watten. Ein NachlaĂ (1969) auch im Untertitel angedeutet, und noch
in Auslöschung. Ein Zerfall (1986) steht Franz-Josef Murau vor der Herausforde-
rung, sich nach dem Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders mit der materiel-
len wie ideellen Hinterlassenschaft der Familie beschĂ€ftigen zu mĂŒssenÂ
â erst die
unumgÀngliche Aufarbeitung der Vergangenheit setzt den ErzÀhltext in Gang.127
Zentraler Gegenstand der archivarischen Recherche in Korrektur ist Roithamers
Studie Ăber Altensam und alles, was mit Altensam zusammenhĂ€ngt, mit besonde-
rer BerĂŒcksichtigung des Kegels, deren UniversalitĂ€tsanspruch â eben âallesâ zu
erfassen, âwas mit Altensam zusammenhĂ€ngtâ â bereits im Titel deutlich wird.
Der Nachlassbefund, den der ErzÀhler in der Folge fragmentarisch erstellt, erhellt
den zerrĂŒtteten Geisteszustand des Autors Roithamer; andererseits tritt dabei aber
auch jener charakteristische Redaktionsprozess zutage, in dem âVernichtungâ und
âVollendungâ auf hintersinnige Weise miteinander korrespondieren. Auf der Reise
zum BegrĂ€bnis seiner Schwester, âauf der Ăberfahrt von Dover auf den Kontinentâ
(TBW 4, 76), habe Roithamer begonnen, die umfangreiche Studie ĂŒber seinen
Herkunftsort und das fĂŒr seine Schwester entworfene Kegel-Bauwerk erneut zu
korrigieren: âIch hatte das Manuskript aus der Reisetasche herausgenommen und
sofort gesehen, es ist alles falsch in meinem Manuskript, daĂ ich nicht nur Teile
falsch beschrieben habe, daĂ ich alles falsch beschrieben habe, denn es ist das
Entgegengesetzte, so Roithamer.â (TBW 4, 312 f.) Der Autor der Studie habe diese,
wie der ErzĂ€hler zu erkennen glaubt, âdurch die rĂŒcksichtsloseste und dadurch
vollkommenste Korrekturâ allerdings nicht âvernichtetâ,
sondern zu einer gÀnzlich neuen Studie gemacht, denn die Zerstörung der Studie
durch seine Hand, durch seinen scharfen, mit der Studie am rĂŒcksichtslosesten ver-
fahrenden Verstand, war doch nur gleichbedeutend mit der Erschaffung einer völlig
neuen Studie, er hatte solange die Studie korrigiert, bis nicht, wie er geglaubt hat, die
Studie vernichtet gewesen, sondern eine neue Studie entstanden war. (TBW 4, 76)
und schlieĂlich auch semantischer und syntaktischer Strukturen den Ă€sthetischen Rang des
offensichtlich, nach lĂ€ngerer konzentrierter Vorbereitung, in gröĂter Hast produzierten [âŠ]
Romans gefĂ€hrdetâ. Dazu auch Bernhard Judex: Thomas Bernhard. EpocheÂ
â WerkÂ
â Wirkung.
MĂŒnchen: C. H. Beck 2010, S. 76.
127 Hahn: Geschichte und Epigonen (Anm.Â
37), S.Â
436, spricht in diesem Zusammenhang vom all-
gegenwĂ€rtigen âAlpdruck der Hinterlassenschaftenâ in Bernhards Ćuvre.
Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft 381
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471