Seite - 36 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 36 -
Text der Seite - 36 -
„weitblickende[n] Stratege[n]“.106 Marginter vermutet, dass Kraus die „Kontakt-
stelle“ zu einem zweiten Standbein ausbauen wollte, aber als Leiter einer Abtei-
lung durfte nur ein pragmatisierte Beamter bestellt werden, weshalb die „Kon-
taktstelle“ ein „Fremdkörper“ im Außenministerium blieb. Dies bekam auch
Kraus zu spüren, da er einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der
Auslandskulturarbeit hatte sowie über direkten Kontakt mit dem zuständigen
Minister verfügte. Mit dem Konzept der „Kontaktstelle“ führte Kraus weiter,
was er bereits mit der ÖGL erfolgreich praktiziert hatte, nämlich aus den Län-
dern des realen Sozialismus dissidente Schriftstellerinnen und Schriftsteller
nach Österreich einzuladen, um ihnen dort Kontakte zu verschaffen, die dann
„selbständig weiterfunktionieren sollten“.107 Die österreichischen Autorinnen
und Autoren befanden sich im Ausland in einer ähnlichen Situation, hatten
aber den Nachteil, dass es für das Außenministerium mehr auf die Besucher-
zahlen bei Lesungen ankam und der Presseniederschlag für das Ministerium
wichtiger war als in der ÖGL.
Im Jahr 1982/83 war Kraus „Fellow“ des „Wissenschaftskollegs zu Berlin“. Dies
war, wie er in handschriftlichen autobiografischen Entwürfen festhielt, das ein-
zige Mal, dass er „ein ganzes Jahr außerhalb von Wien“108 verbrachte. Dort ver-
fasste er einen Essay, der 1983 bei Zsolnay unter dem Titel „Nihilismus heute“
publiziert wurde.
Im Jahr 1988, also nur zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion,
gelang Kraus ein letzter kulturpolitischer Coup: die Realisierung von „Öster-
reich-Bibliotheken“ im Ausland und die damit in Zusammenhang stehenden
Stipendien für Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Ostens. Kraus’ Konzept
wurde zunächst in Bratislava und Brno umgesetzt, gefolgt von weiteren Stand-
orten in Kiew, Olmütz, Moskau und St. Petersburg. Bis 1995 wurden insgesamt
37 „Österreich-Bibliotheken“ in den postkommunistischen Ländern etabliert.
Trotz seines Rücktritts als Leiter der ÖGL im Jahr 1994 war Kraus bis zu seinem
Tod für die von den „Österreich-Bibliotheken“ arrangierten Stipendien und Ein-
ladungen zuständig.
In Brünn war Kraus die Idee zu diesem Projekt gekommen: „‚Früher wäre das
alles nicht möglich gewesen; in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion
durften nicht einmal Büchergeschenke angenommen werden. Als die ersten
Schritte in Richtung Demokratie unternommen wurden, war ich sehr schnell in
Brünn, um das Germanistische Institut für eine Art Minikulturinstitut zu Hilfe
106 Peter Marginter: Der Chef und seine Schäfchen. In: Bassola, Kiss (Hg.): Literatur als Brücke
zwischen Ost und West, S. 44–52, hier S. 47.
107 Ebd., S. 49.
108 Wolfgang Kraus: Entwürfe zu einer Autobiografie, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
36 Einleitung
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437