Seite - 46 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 46 -
Text der Seite - 46 -
bar mit den durch die „Gruppe 47“ ausgelösten Polarisierungen in der Bundes-
republik Deutschland. Dass der Kulturbetrieb bis weit über die Nachkriegsjahre
den „Übriggebliebenen“ gehörte, bemerkte Milo Dor, der ab 1951 der „Gruppe
47“ angehörte, in einem kritischen Artikel: „Sie hatten in allem recht. Sie grün-
deten staatlich sanktionierte und subventionierte Vereinigungen, Verlage und
was sie wollten. Sie verliehen einander Orden, Preise, Titel, Subventionen, Pen-
sionen. Sie beweihräucherten einander und gaben wechselseitig ihre Bücher her-
aus, die sonst mit Recht in ihren Schreibtischladen vermodert wären.“13 Dass sich
in Wien niemand um die Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation
gekümmert habe, äußerte Ernst Jandl und nennt als erstes Zentrum der Literatur
die ÖGL: „Das war ein interessiertes Publikum, das positiv reagiert hat.“14
Auch Wolfgang Kraus stand dem „Literaturbetrieb“ und seinen inhärenten
„Gesetzen“ kritisch gegenüber. Dies zeigt sich in einem Brief an Thomas Bern-
hard, in dem Kraus auf seine eigene Rolle, das innere und äußere Kraftfeld des
Betriebs eingeht und sich für einen Ausgleich ausspricht, obwohl er sich selbst,
wie aus dem Bild der „Insel“ hervorgeht, als isoliert betrachtet:
Ich kenne den Kulturbetrieb hier und anderswo so genau wie nicht viele andere,
und ich ermesse seit langem die Kleinlichkeit, Unzuständigkeit und den ungeheu-
ren Defekt, der sich fast in allem ausdrückt. [...] Wir kennen beide die Welt, ins-
besondere den österreichischen Bruchteil dieser Welt, und ich nehme seit vielen
Jahren kaum mehr irgendetwas als vollgewichtige Realität. […] [Ich] bin davon
durchdrungen, daß es für mich gilt, ein verschwindend kleines Teilchen so gut bei-
zutragen, wie ich es eben mit allen meinen Fehlern und Schwächen kann, und ich
tue das, ob ich Resonanz finde oder nicht, und wenn es anfangs sehr geschmerzt
hat, daß man meine besten und ehrlichsten Bemühungen mehrmals in der Öffent-
lichkeit polemisch auf schmutzigste Weise angegriffen hat, so stehe ich dem heute
gelassen gegenüber […] Meine Insel ist ein bisschen größer als Ihr Hof, denn ich
mache auch mehr Kompromisse, trotzdem fühle ich mich auf einer Insel, und was
nicht dort geschieht, geschieht meist gar nicht.15
Da sich die jeweiligen Akteure innerhalb bzw. außerhalb des Literaturbetriebs
eine andere Perspektive aneignen, die ihren Standort innerhalb des literarischen
Feldes markiert, sei es von ästhetischen oder politischen Gesichtspunkten aus,
zum Land ohne Eigenschaften. Hg. v. Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 138–
171, hier S. 157.
13 Milo Dor: Revolte der Mittelmäßigkeit. In: FORVM 1 (1954), H. 2, S. 18.
14 Ernst Jandl: Eine gewisse Tendenz, alles zu relativieren. In: Ernst Grohotolsky (Hg.): Provinz,
sozusagen. Österreichische Literaturgeschichten. Graz, Wien: Droschl 1995, S. 9–23, hier
S. 18.
15 Wolfgang Kraus an Thomas Bernhard, 17. November 1970, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
46 Der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437