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Immerhin durfte Hugo Huppert Anfang März 1975 zum Abschluss seiner fünf-
bändigen Gesamtausgabe, die in einer Gemeinschaftsausgabe des Insel-Verlags
mit dem ostdeutschen Verlag Volk und Welt erschienen war, seine Nachdichtun-
gen Wladimir Majakowskis präsentieren.
Es fällt auch auf, dass der Schriftsteller und Philosoph Günter Anders, von
der österreichischen Politik wie den Medien konsequent ausgeblendet, nie zu
Veranstaltungen eingeladen wurde. Anders war zwar in der Bundesrepublik
bekannt, wo er seine Werke bei C.
H.
Beck veröffentlichte und für den „Merkur“
schrieb, in Österreich jedoch, wohin er 1950 aus dem US-amerikanischen Exil
zurückgekehrt war, fühlte er sich als Außenseiter, die Stadt Wien selbst war für
ihn nur eine Operationsbasis.75 Immerhin erhielt Anders 1979 den „Österrei-
chischen Staatspreis für Kulturpublizistik“, in dessen Jury auch Kraus saß.76
Insofern ist der Behauptung zu widersprechen, dass es bei der ÖGL „keinen
wie immer gearteten Partikularismus“ gegeben habe und die „so häufig überbe-
werteten Unterschiede zwischen ‚Rechts‘ und ‚Links‘ […] ihrer längst nicht mehr
stimmenden Schärfe entkleidet“77 worden seien. Autorinnen und Autoren, die
der KPÖ angehörten, wurde das Podium der ÖGL nicht zur Verfügung gestellt.
Dass dennoch Schriftsteller auftraten, die der „Linken“ zuzurechnen sind, wie
z. B. Erich Fried, Jakov Lind oder auch Elias Canetti (der in den 1930er und
1940er Jahren noch mit dem Kommunismus sympathisiert hatte und mit Ernst
Fischer befreundet war),78 sei aber nicht verschwiegen. Vor allem Fried, der am
27. April 1962 eine Lesung abhielt, dürfte den konservativen österreichischen
Politikern hinsichtlich seiner ideologischen Vorlieben verdächtig gewesen sein.
(vgl. dazu Kapitel 3.5.)
Hermynia Zur Mühlen, Robert Neumann, Hilde Spiel. In: Heide Kunzelmann, Martin Lieb-
scher, Thomas Eicher (Hg.): Kontinuitäten und Brüche. Österreichs literarischer Wiederaufbau
nach 1945. Oberhausen: Athena 2006 (= Übergänge – Grenzfälle 12), S. 77–92, hier S. 82: „Die
angespannte politische Situation des Kalten Krieges wirkte sich für den Globus Verlag und
dessen Tochtergesellschaften recht negativ aus. Einerseits wurden die Bücher des Verlags vom
Buchhandel effektiv boykottiert. Andererseits hatte die KPÖ 1948–49 eine Linie eingeschlagen,
die kaum Platz mehr für bürgerliche Sympathisanten […] übrig ließ.“
75 Vgl. Jason Dawsey: Where Hitler’s Name is Never Spoken: Günther Anders in 1950s Vienna.
In: Günter Bischof, Fritz Plasser, Eva Maltschnig (Hg.): Austrian Lives. New Orleans: Univ. of
New Orleans Press, UNO Press 2012 (= Contemporary Austrian Studies 21), S. 212–239.
76 „Wir einigten uns auf Günther Anders und Piero Rismondo – beide halte ich für richtig.“ Wolf-
gang Kraus: Tagebuch, 19. Oktober 1979, NL WK.
77 Vgl. Der Mittag, Düsseldorf, 19. Jänner 1963, Sammlung ÖGL, NL WK.
78 Ernst Fischer berichtet über ein Gespräch mit Canetti in den 1930er Jahren, in dem dieser auf
Fischers Frage: „Aber Sie sind nicht Kommunist?“ geantwortet habe: „Das ist noch unbestimmt.“
Karl Kröhnke: Ernst Fischer oder die Kunst der Koexistenz. Frankfurt/M.: Büchergilde Guten-
berg 1994, S. 48.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 101
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437