Seite - 126 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Bemühungen um einen Kanon
Die Bestrebungen um Kanonisierung, die von der ÖGL ausgingen, sind klar
identifizierbar, denn der Kanon hat auch als nationaler Kanon eine integrative
Funktion für die Außenwirkung, um die es der ÖGL in erster Linie ging. Dieser
setzt aber auch nach innen Unterschiede, denn mit der gemeinsamen Anerken-
nung eines nationalen Kanons „gewinnen vornehmlich jene an Prestige, die kraft
ihres kulturellen Kapitals den Kanon als Wissen und Passion ‚besitzen‘ und dies
nach außen hin zu kommunizieren verstehen.“166 Mit ihren Bestrebungen wur-
de die ÖGL im Lauf der Zeit selbst zu einer „Definitionsmacht“ im literarischen
Feld.
Ähnlich wie in Friedrich Torbergs „FORVM“ berief man sich bei der
Zusammenstellung des Veranstaltungsprogramms der ÖGL auf die Literatur der
Wiener Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit, achtete jedoch darauf,
dass der „Habsburgische Mythos“ nicht das einzige austriazistische Abziehbild
blieb und nahm sich, im Gegensatz zum „FORVM“, auch der jüngeren Genera-
tion von Autorinnen und Autoren an, die an diesem spezifischen „Österreich-Bild“
mitarbeiteten.167 Damit ist vor allem jene „beschreibbare Anzahl [an Autorinnen
und Autoren, Anm. d. Verf.] (keine Gruppe) bezeichnet“, die um 1920 geboren
war und nach 1945 zu publizieren begonnen hatte, sowie am „Fortschreiben
historischer ästhetischer Positionen“168 mitarbeitete. Was Wolfgang Hackl hin-
sichtlich von Kraus’ Bestrebungen in „Wort in der Zeit“ bemerkt, nämlich dass
er „die österreichische Literatur aus der Polarität Nationalliteratur versus Welt-
literatur“ definiere, darf im breiteren Kontext auch für die ÖGL gelten, was
erkennen lässt, „wie sehr damals die Frage nach der österreichischen Literatur
von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen im Zusammenhang mit der nationalen
Frage“169 gestanden hatte.
Diese teilweise sehr angestrengten Bemühungen um eine österreichische
„Nationalliteratur“ haben Marcel Reich-Ranicki, der selbst einige Male in der
166 Michael Kämper-van den Boogaart: Kanon. In: Erhart Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der
Literaturbetrieb in Grundbegriffen. 2. durchges. Aufl. Reinbek/H.: Rowohlt 2010 (= Rowohlts
Enzyklopädie 55672), S. 165–169, hier S. 166.
167 Vgl. Anne-Marie Corbin: Die österreichische Identität in Friedrich Torbergs Forum. In: Öster-
reich in Geschichte und Literatur 46 (2002), H. 1, S. 2–16.
168 Norbert Frei: Das allgemeine Ermüden und Davonrennen. Entwicklungslinien österreichischer
Prosa in den 50er Jahren. In: Hubert Lengauer (Hg.): „Abgelegte Zeit?“ Österreichische Lite-
ratur der fünfziger Jahre. Beiträge zum 9. Polnisch-Österreichischen Germanistenkolloquium
Łódź 1990. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österr. Literatur 1992 (= Zirkular Sonder-
nummer 28), S. 109–124, hier S. 119.
169 Wolfgang Hackl: Kein Bollwerk der alten Garde, keine Experimentierbude. „Wort in der Zeit“
(1955–1965), eine österreichische Literaturzeitschrift. Innsbruck: AMŒ 1988 (= Innsbrucker
Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 35), S. 196.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
126 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437