Seite - 143 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Friedrich Sieburg hatte bei einem Vortrag in Wien über „Literatur und Nation
in der Deutschen Bundesrepublik“ die Existenz einer österreichischen Literatur
durch seine Unkenntnis quasi negiert, was ein Patriot wie Henz nicht auf sich
sitzen lassen konnte:
Wir wollen diese Fehlmeinungen ebensowenig nachtragen, wie den Ausspruch
eines sehr prominenten deutschen Literaturkritikers, der seinen Vortrag in Wien
vor den Vertretern des geistigen Österreich mit den Worten begann: „Meine Her-
ren, ich sehe Sie nicht, ich kenne ihr Gesicht nicht.“ Dieses Gesicht zu zeichnen,
ist unsere Aufgabe. Wie soll es auch der Nachbar kennen, wenn wir es verhüllen,
wenn wir vor allem das Schaffen der mittleren Generation, das im Kampf der Sti-
le und Experimente und im Reklamewirbel einer sensationellen Reportageliteratur
an den Rand gedrückt wurde, verschweigen.221
Mit ihren elf Jahrgängen (Humbert Fink führte die Zeitschrift nach ihrem Ende
in sechs Ausgaben weiter)222 war „Wort in der Zeit“ eine der langlebigsten Lite-
raturzeitschriften der Nachkriegszeit, und wie es Henz in seinen Tagebüchern
stolz formulierte, „kaum umzubringen“.223
In einem Brief von 1960 schrieb Ministerialrat Alfred Weikert, der das unrühm-
liche Ende der Zeitschrift einleiten würde, an den Herausgeber, dass „Wort in
der Zeit“ in der ersten Hälfte ihres Bestehens „von der Schaufensterwerbung für
österreichische Literatur bis zu den Formen der Kritik und überhaupt mit der
Debatte über die Lage der österreichischen Geschichte und Literatur“224 mehr
hätte bewirken können. Es fehlte einstweilen noch ein entscheidendes Binde-
glied, das zur Distribution der Zeitschrift beitragen konnte. Dieses Scharnier
zwischen Zeitschrift und Rezipient sollte die ÖGL bilden.
221 Wort in der Zeit 1 (1955), H. 1, S. 1 f.; Auch in seiner Autobiografie weist Henz auf diesen
Sachverhalt, der die Gründung der Zeitschrift anregte, hin. Vgl. Rudolf Henz: Fügung und
Widerstand. Wien, Graz: Styria 1981, S. 316.
222 Die „Wiener Zeitung“ meldete, dass „Wort in der Zeit“ erneuert und erweitert erscheine (30.
März
1966, S. 5), wodurch Stiasny „mit einer Publikation für Intellektuelle entscheidend in die kul-
turpolitische Diskussion eingreifen“ möchte. Humbert Fink, einer der letzten literarischen
Antimodernisten und in den 1970er Jahren Initiator des alljährlich in Klagenfurt stattfinden-
den Bachmann-Wettbewerbs, konnte als Mitherausgeber gewonnen werden, das neue Pro-
gramm sollte eine „intensive Beschäftigung mit kulturpolitischen Gegebenheiten unserer
Gegenwart sein“, so war die „Verpolitisierung der österreichischen Kultur“ Thema des ersten
Heftes. Als Beiträger konnten Hermann Kesten, Thomas Bernhard, Friedrich Heer, Heinz
Brantl, Günther Nenning, Alexander Lernet-Holenia und Milo Dor gewonnen werden. Nur
sechs Ausgaben waren dem 12. Jahrgang der Zeitschrift, deren Mitherausgeber Gerhard Zer-
ling war, beschieden.
223 Rudolf Henz: Tagebuch, 15. September 1964, NL RH.
224 Alfred Weikert an Rudolf Henz, 30. Juni 1960, NL RH, Karton 19/V.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 143
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437