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emigrierte 1934 nach England, wo er aktives Mitglied des „Austrian Center“
und des „Free Austrian Movements“ wurde und den österreichischen P.E.N.-
Club im Exil mitbegründete. 1938 war er zum Präsidenten des Exil-P.E.N. gewählt
worden und spielte als Vizepräsident des Internationalen P.E.N. eine zentrale
Rolle bei der Wiedererrichtung des österreichischen P.E.N.-Zentrums 1947 in
Zürich.331 Zwischen 1942 und 1957 schrieb er in englischer Sprache und kehrte
dann zum Deutschen zurück, ohne jemals ernstlich eine Rückkehr nach Öster-
reich zu erwägen. Seit den späten 1950er Jahren publizierte er regelmäßig in
Zeitschriften wie „konkret“, die politisch eher links standen; in der ÖGL trat er
mit einer „anekdotenreiche[n] Plauderei über ‚meine lebenslangen Beziehungen
zu meinen Freunden, den Kommunisten‘“ auf, wie das kommunistische „Tage-
buch“ etwas schadenfroh berichtete: „Das begann harmlos mit Egon Erwin Kischs
Sturm auf die Kreditanstalt […], um sodann auf weniger harmlose Lacherfolge
hinzusteuern.“332 Neumann, der immer wieder zwischen den monolithischen
Blöcken des Kalten Krieges zu vermitteln versuchte, u. a. mit seinem Marburg-Ost-
berlin-Projekt, das mittels Tonbändern eine Diskussion zwischen den Studie-
renden der beiden Städte über den Prozess gegen Adolf Eichmann ermöglichen
sollte,333 versuchte auch in der ÖGL diese Position einzunehmen:
Lassen Sie es mich klarstellen, gerade hier in Wien, wo man meine Freunde, die
Kommunisten, wenig liebt – ich betrachte sie wirklich als meine Freunde. Mein
Ehrgeiz auf meine alten Tage ist, ein Fellow Traveller zu sein – ein Fellow Traveller
der Menschheit. Ist man das einmal, so kann man kein Kalter Krieger sein. Der
Aktionsraum von unsereinem liegt zwischen den Apparatschniks des Kalten Krie-
ges im Osten und den Apparatschniks des Kalten Krieges im Westen – ein enger
Aktionsraum, aber den wollen wir zu verbreitern versuchen. Auch meine Vorle-
sung ist solch ein Versuch. Wir kennen die Menschen drüben nicht, wir sehen sie
durch eine gläserne Mauer – aus einem grünem billigen Flaschenglas, das nur
scheinbar durchsichtig ist und tatsächlich das Bild verzerrt –, und auch sie sehen
uns durch dieses grüne Flaschenglas. Das ist der Sinn des von mir Berichteten. Wir
brauchen einen, der dieses Glas zerbricht.334
331 Vgl. Maximiliane Jäger: „Einmal Emigrant, immer Emigrant“. Zur literarischen und publizisti-
schen „Remigration“ Robert Neumanns 1946–1965. In: Charmian Brinson, Richard Dove, Jen-
nifer Taylor (Hg.): Immortal Austria? Austrians in Exile in Britain. Amsterdam [u. a.]: Rodopi
2007 (= The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 8), S. 18–196.
332 Bruno Frei: Festwöchentliche Nebenschauplätze. In: Tagebuch 18 (1963), Nr. 7/8, S. 10.
333 Vgl. dazu Peter Paul Schwarz: Im „Starkstrom des west-ostdeutschen Spannungsfelds“. Über
Robert Neumanns Marburg-Ostberlin Projekt 1961 bis 1964. In: Günther Stocker, Michael
Rohrwasser (Hg.): Spannungsfelder. Zur deutschsprachigen Literatur im Kalten Krieg. Wup-
pertal: Arco 2014 (= Arco Wissenschaft), S. 41–67.
334 Frei: Festwöchentliche Nebenschauplätze. In: Tagebuch 18 (1963), Nr. 7/8, S. 10.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 171
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437