Seite - 203 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 203 -
Text der Seite - 203 -
Dieser transkulturellen Perspektive steht Kraus aufgeschlossen gegenüber,
verfolgte er doch in seiner literaturvermittelnden Praxis eben jene von Magris
dargestellten literaturpolitischen Prämissen, die ein imaginäres „Mitteleuropa“
als einen Kulturraum konstruierte, dem sich wichtige Beiträge (nicht nur) zur
österreichischen Literatur verdankten. Kraus nennt Magris Dissertation einen
zentralen Beitrag zu „der für viele immer noch nicht beendeten Diskussion über
österreichische Literatur“.34
Magris war auch gern gesehener Gast in der ÖGL, wo im Dezember 1966 Der
Habsburgische Mythos präsentiert wurde, und im April 1968 hielt er einen Vor-
trag über die aktuellen Perspektiven der mitteleuropäischen Literatur. Kraus’
Verbundenheit mit Magris zeigt sich auch daran, dass er ihm 1990 den Donau-
land-Sachbuchpreis zukommen ließ und im Rahmen der Preisverleihung auch
die Laudatio hielt, in der er Magris’ Studie „zu einem der wichtigsten Bücher
zur österreichischen Identität überhaupt“35 erklärte.
An dem Projekt Mitteleuropa als einem geistigen Schauplatz der österreichi-
schen Literatur hielt Kraus sein Leben lang fest und arbeitete aktiv daran mit,
dieses imaginäre Konstrukt zu realisieren und zu propagieren. So sprach er in
seinem Eröffnungsvortrag anlässlich der 1983 in Hamburg stattfindenden „Öster-
reichischen Buchwoche“ über die „Besonderheiten und Paradoxien des vergan-
genen k. u. k. Reiches und des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Dabei bejahte
er lebhaft die Frage, ob es eine genuin österreichische Literatur gebe. Letztlich
definiere diese sich an ihrem Verhältnis zu Wien, diesem bis heute lebendigen
Schnittpunkt verschiedener Kulturen und Lebensgefühle.“36 In „Wort in der
Zeit“ hatte Kraus bereits 1965 postuliert, dass, auch wenn „die Donau von Wes-
ten nach Osten fließt, das Strombett der österreichischen Literatur […] in die
umgekehrte Richtung“ zeige, „die Quellen liegen im Osten, die Sprache führt
nach Westen“.37
In seiner Glosse, die während der 1980er und 1990er Jahre in der katholischen
Wochenzeitung „Furche“ erschien, widmete er sich dem Begriff „Mitteleuropa“,
der, so Kraus, mit Österreich in engem Zusammenhang stehe: „Nach 1918 konn-
te ja von der Donaumonarchie nur mehr historisch gesprochen werden, obwohl
der kulturelle Raum trotz der Mehrsprachigkeit in unzähligen geistigen Bezie-
hungen zumindest bis 1938 erhalten blieb.“38 Nach der Errichtung des „Eiser-
nen Vorhangs“ sei „in den volksdemokratisch gewordenen Ländern die Erinne-
34 Ebd.
35 Wolfgang Kraus: Donaustrom und Donauland. Laudatio auf Claudio Magris zum Donau-
land-Preis 1990, ms. Ts., 9. Bl., ÖGL-Archiv.
36 Rainer B. Schossig: Von ungebrochener Lebendigkeit. In: Bremer Tageszeitung, 25.
September
1983.
37 Wolfgang Kraus: o. T. In: Wort in der Zeit 11 (1965), H. 1, S. 5 f., hier S. 5.
38 Ders.: Mitteleuropa – kulturelle Utopie? In: Kurier, 4. Dezember 1984, S. 5.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 203
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437