Seite - 204 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 204 -
Text der Seite - 204 -
rung“ erwacht und die gemeinsame Kultur habe an Bedeutung gewonnen, da
„in dieser Sphäre geistige Verbindungen und künstlerische Begegnungen durch-
aus zu knüpfen möglich waren“.39 Kraus gibt dem kulturellen Aspekt hinsicht-
lich des politischen dabei den Vorzug, die „in diesem Raum stehende gemein-
same“ Kultur apostrophierte er stark: „Man kann sich dabei auf Hofmannsthal,
auf Werfel, Kafka, ebenso auf Tibor Déry, Julius Hay, Georg Lukács, auf Rilke,
Trakl, Jaroslav Seifert, auf Stanisław Lem, Sławomir Mrożek stützen, auf Italo
Svevo, Edoardo Weiss und natürlich auf Freud, auf Milan Kundera, György Kon-
rad, György Sebestyén und Milo Dor.“40
Emil Brix hat darauf hingewiesen, dass selbst in den letzten Jahren des Kalten
Krieges das Konzept „Mitteleuropa“41 in Österreich unpopulär gewesen sei und
nur von einigen wenigen liberalen Intellektuellen und teilweise von der ÖVP
propagiert worden sei, die gefürchtet hätten, dass Österreich sich durch seine
Neutralität und das Abwenden von historischen Traditionen in die Isolation
manövriere. Die Idee einer speziellen zentraleuropäischen Region hatte dabei
von Anfang an damit zu tun, eine politische Perspektive zu entwickeln, die weder
ausgeprägt östlich noch westlich war, eine Art „dritter Weg“ für den kulturellen
Bereich.42
Kraus beteiligte sich an diesem Diskurs, der zum ideengeschichtlichen Arsen-
al der sowjetischen intellektuellen Dissidenten zählte und sich in der ersten Hälf-
te der 1980er Jahre mit einem politischen Essay des Schriftstellers Milan Kun-
dera, der 1983 in der französischen Zeitschrift „Le débat“ erschienen war,
popularisierte und rasch in mehrere Sprachen übersetzt wurde, darunter 1984
unter dem Titel The Tragedy of Central Europe in der „New York Review of
Books“. Für Kundera, der seit 1975 im Pariser Exil lebte, stand „Mitteleuropa“
für eine individualistische und pluralistische Kultur, die durch die Sowjetunion
behindert wurde. Die Sowjetunion habe „Mitteleuropa“ aus Europa entführt,
woraus sich die „Tragödie“, einerseits für die Staaten des realen Sozialismus, aber
andererseits auch für Westeuropa ergebe, denn dieses habe diese Staaten aufge-
geben und dadurch habe sich die Problematik verschärft. Der Essay „glorifiziert
39 Ebd.
40 Ebd.
41 Vgl. dazu auch: Jacques Le Rider: Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs. Wien 1994;
ders.: Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive in der Zwi-
schenkriegszeit. In: Marijan Bobinac, Wolfgang Müller-Funk (Hg.): Gedächtnis – Identität –
Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutsch-
sprachigen Kontext. Tübingen: Francke 2008 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 12), S. 139–146.
42 Vgl. Emil Brix: Austria and Central Europe. In: Austria and Central Europe. In: Günter Bischof,
Fritz Plasser, Anton Pelinka, Alexander Smith (Hg.): Global Austria. Austria’s Place in Europe
and the World. New Orleans: University of New Orleans Press 2011 (= Contemporary Austri-
an Studies 20), S. 200–211.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
204 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437