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die Zeit Kakaniens keineswegs“, vielmehr postuliert Kundera, dass die Habsbur-
ger Monarchie „ihre historische Mission“ nicht begriffen habe, eben „aus Mit-
teleuropa eine Föderation gleichberechtigter Nationen zu bilden“.43 Der Begriff
wurde auch von Václav Havel propagiert, um die Option einer parallelen gesell-
schaftlichen Opposition zu legitimieren, die gegen die nicht-demokratische Rea-
lität sprechen sollte, und György Konrad war einer derjenigen Intellektuellen,
die für eine „Anti-Politik“ plädierten.44
Wie Tony Judt analysiert, war es Kundera mit diesem Konzept darum gegan-
gen, sich an den Westen zu wenden: „[H]is vision of a disappearing Central
Europe accords most closely with the revived interest in the general European
fin-de-siècle. […] [A]n enthusiasm for the Vienna of Freud, or Kafka’s Prague,
cannot help but be bound up in a sense of regret and loss.“45
Gegen Kraus und den von ihm rezipierten und auch distribuierten „Mittel-
europa“-Gedanken opponierte Thomas Rothschild in der „Stuttgarter Zeitung“.
Er wies darauf hin, dass Kultur „bekanntlich auch und nicht zuletzt ein Wirt-
schaftsgut“ sei und mit den „[e]xpansionistischen Tendenzen“ auch eine „Ent-
wicklung der Ware Kultur“46 einherginge. Rothschild polemisierte, dass es dann
eine „Mitteleuropäische Gesellschaft für Literatur“ mit Sitz im Palais Wilczek
und Außenstellen im Palais Lobkowitz und im Budapester Klarissinnenkloster
geben würde, deren Leiter dann natürlich Kraus wäre. Obwohl er „eine Offen-
sive der Vielfalt“ grundsätzlich befürwortete, plädierte er für eine „Förderung
der regionalen Kulturen, eine Rettung all dessen, was den übergreifenden Ten-
denzen der Kommerzialisierung, der profitablen Verwertung der Festivalkultur
nicht standhalten kann und nicht den mitteleuropäischen Eintopf, das Kultur-
gulasch“.47
Kraus veröffentlichte 1993 den Essayband Zukunft Europa, der abermals auf
die Idee eines mitteleuropäischen Raumes als Kulturregion rekurrierte: „Die
europäische Besonderheit ist eine hoch angesetzte, sehr riskante Identität: Sie
wird gebildet durch die Komposition von Gegensätzen; durch die Überwindung
der Gegensätze in der Synthese; durch die sich zu einer bunten Einheit fügende
Pluralität; durch die in Harmonie aufgehenden Spannungen, die fruchtbaren
43 Paul Michael Lützeler: Paris und Wien oder der kontinentale Grundkonflikt. Zur Konstrukti-
on einer multikulturellen Identität in Europa. In: Monika Mokre, Gilbert Weiss, Rainer Bau-
böck (Hg.): Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen. Frankfurt/M., New York:
Campus Verlag 2003, S. 36–54, hier S. 48.
44 Vgl. Brix: Austria and Central Europe. In: Bischof, Plasser, Pelinka, Alexander Smith (Hg.):
Global Austria, S. 204.
45 Tony Judt: The Rediscovery of Central Europe. In: Daedalus 119 (1990), H. 1, S. 23–54, hier S.
47.
46 Thomas Rothschild: Kulturgulasch. In: Stuttgarter Zeitung, 1. Juli 1989.
47 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 205
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437