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lisch, die Kirche hat dort eine Position wie in kaum einem anderen europäischen
Gebiet. Mit dem heute ungemein lebendigen katholischen Glauben hat die Latini-
tät noch Gegenwärtigkeit, in ihr steckt Antike und Humanität, die Kirche war tat-
sächlich eine Arche Noah für die griechische und römische Kultur.58
Vor diesem soziokulturellen Hintergrund erklärt sich für Kraus eine Persönlich-
keit wie Herbert, der 1964 auch in der ÖGL auftrat und Kraus freundschaftlich
verbunden war: „Sie sind wirklich ein Muster-Freund, besser ein lebendiges
Denkmal von Freundschaft, daß Sie haben mich nicht vergessen [sic] [...]. Mei-
ne Gedanken sind oft in Wien, bei Ihnen“.59
Zwei Jahre vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ wagte Kraus das utopische
Gedankenspiel, dass die Emigrantinnen und Emigranten der Oststaaten wieder
in ihre eigenen Länder zurückkehren würden und zeichnete die Folgen für das
westeuropäische Geistesleben nach. Als Heimkehrer nennt er u. a. Alexander
Solschenizyn, Andrei Sinjawski, Joseph Brodsky und Efim Etkind. Die Möglich-
keit zur Rückkehr wünscht sich Kraus auch für Milan Kundera, Josef Škvorecký,
Jiří Kolář, Czesław Miłosz, Sławomir Mrożek und Jan Kott:
Die gesamte Kulturlandschaft Europas würde sich verändern – und zwar keines-
wegs zugunsten des politischen Westens. Dort sitzen nämlich die Emigranten aus
dem sogenannten Osten und bilden das unschätzbare Ferment des heutigen Kul-
turlebens. Wie stünde es um die Kultur des Westens, wenn der reale Sozialismus
auf diese so fruchtbaren, wertvollen Intellektuellen und Künstler nicht ängstlich
verzichtet hätte? […] Warum sollten ähnliche Impulse nicht erfolgen, wenn alle
diese Emigranten – bei offenen Grenzen – nicht hätten ihr Land verlassen müssen
oder wenn sie zurückkehren könnten, um dort ungestört zu arbeiten und zu pub-
lizieren? Natürlich würden sie vorerst ihrem eigenen Land zugute kommen. […]
Demokratische Normalität braucht Zeit nach derart prägenden totalitären Epo-
chen.60
Dass die östlichen Emigranten ein „unschätzbares Ferment“ des westeuropäi-
schen Kultur- und Literaturbetriebes waren, darin bestand für Kraus und das
von ihm prolongierte Konzept einer mitteleuropäischen Literatur kein Zweifel,
vielmehr sah er darin ein unbestreitbares Faktum. Im Gegenzug dazu sei jedoch
die Frage gestellt, wie es mit Kraus’ Disposition hinsichtlich der österreichischen
Gegenwartsliteratur bestellt war.
58 Wolfgang Kraus: Gehe aufrecht, wo andere knien! In: Die Presse. 23./24. November 1974.
59 Zbigniew Herbert an Wolfgang Kraus, 15. Jänner 1973, NL WK.
60 Wolfgang Kraus: Ost-Fermente. In: Die Furche, 13. März 1987.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
208 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437