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würden, geantwortet hatte: „‚Weil sie glauben, dort besser zum Zug zu kom-
men.‘“117 Daraufhin setzte sich Jandl gegen diese Unterstellung zur Wehr und
stellte dezidiert fest, dass „eine bestimmte Gruppe österreichischer Autoren wie
die ‚Wiener Gruppe‘ […] oder Friederike Mayröcker und er selber in Österreich
überhaupt keine Chance gehabt hätten“, ihre Werke zu veröffentlichen: „‚Es ist
keinesfalls eine Sache der Bezahlung‘“, äußerte Jandl. Kraus, der Jandls Argu-
ment „‚schon ziemlich kräftig‘“ fand, gab ihm zum Teil recht, denn Schuld an
diesem Zustand sei die verfehlte Literaturförderung des Unterrichtsministeri-
ums: „‚Daß österreichische Dichter weiterhin in der überwiegenden Mehrzahl
unter die Fittiche deutscher Verlage schlüpfen werden‘“, hielt Kraus dennoch für
unvermeidlich, denn „vom kleinen Österreich“ konnte man „nicht verlangen,
was nur die k.
u.
k. Monarchie hätte leisten können‘.“118 Obwohl Kraus hier durch-
aus beschwichtigend reagierte, sprechen seine Tagebücher eine andere Sprache.
So hielt er Jandls Literatur am Beginn der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bei
einer Lesung in der ÖGL mehr für ein „akustisches als literarisches Phänomen“:
„Nichts Neues, er lebt von der Unbildung des Publikums. Aber dieser Beifalls-
lärm in bundesdeutschen, natürlich auch bürgerlichen Zeitungen!“119
Mit dem Werk der 1946 geborenen Schriftstellerin Elfriede Jelinek, die zwischen
1974 und 1991 der KPÖ angehört hatte, konnte sich Kraus sowohl aus ideolo-
gischen als auch literaturästhetischen Gründen nicht anfreunden: „Gestern Elfrie-
de Jelinek ‚Oh Wildnis‘ [, oh Schutz vor ihr] gelesen. Der eitle, selbstbewusste,
überhebliche Monolog einer schweren Neurotikerin, die glaubt, sich alles an
Einfällen genial erlauben zu können. Was ihr eben einfällt, ist herrlich und wird
von Rowohlt sofort gedruckt.“120 Als sie 1986 den Heinrich-Böll-Preis erhielt,
war das für Kraus „unfassbar“ und er bezeichnete Jelinek als „Literaturspeku-
lantin“.121 Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (1985), ein Text, der die Tradition der
Naturlyrik und der literarischen Landschaftsbeschreibung aufnimmt, diese jedoch
unterläuft, indem die Autorin klassische, mystifizierende sowie romantisierende
Beschreibungen satirisch verformt, steht in der Tradition des Schmähliedes auf
Österreich und problematisiert mit einer „ideologiekritischen Fundamentalkri-
tik“122 den Umgang Österreichs mit der eigenen Geschichte sowie die Verdrän-
gung der „Schuldfrage“ nach dem Zweiten Weltkrieg: „Es begann eine österrei-
chische Weltmeisterschaft im Vergessen, die wir zuerst im Wintersport und zwar
117 N. N.: Experimente unerwünscht. In: Wochenpresse, 7. Oktober 1970.
118 Ebd.
119 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 1. Dezember 1976, NL WK.
120 Ders.: Tagebuch, 14. Oktober 1985, NL WK.
121 Ders.: Tagebuch, 10. Juli 1986, NL WK.
122 Cathrine Theodorsen: Jelinek und die Tradition. In: Nordlit (2005), H. 18, S. 235–257, hier
S. 249.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
224 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437