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Sehr geehrter Herr Bundesminister, am 27.
November werden Sie den Manès Sper-
ber-Preis 1987 an Claudio Magris vergeben. Die Jury hat Oswald Wiener vorge-
schlagen. Nach den Statuten des Manès-Sperber-Preises hat die Jury das ausschließ-
liche Vorschlagsrecht. Schon am 23. Jänner 1987 hatte sie ihr Votum für Oswald
Wiener abgegeben. Wie wir heute, am 16.
November 1987, aus dem zufällig in die
Hände gelangten Programm des Manès-Sperber-Symposiums ersehen, haben Sie
sich über das Votum der Jury hinweggesetzt. Wir sehen in dieser Vorgangsweise
einen politischen Willkürakt und legen unter Protest unsere Funktion als Juroren
zurück.351
In „profil“, das über die Vorgänge hinter den Kulissen berichtet hatte,352 erfolgte
eine publizistische Fehde zwischen Kraus, der von Emil Brix, der zwischen 1986
und 1989 das Büro des Wissenschaftsministeriums leitete, Rückendeckung erhielt
und den düpierten Juroren Löcker und Burger. So führte Burger polemisch gegen
Kraus’ Wirken in dieser Causa an, dass das „anthropologische Ideal des Landes
[…] der Großmaturant“ sei, „der den [Erwin] Ringel für ein Genie und den
Wolfgang Kraus für einen Intellektuellen hält.“353 Dem „besinnlichen Werk“ von
Magris könnte, so spottete Burger, „jede staatlich geprüfte Lehrerkommission,
die Wolfgang Kraus zum Vorsitz hat, bedenkenlos das Prädikat ‚wertvoll‘ verlei-
hen.“354 Über den „Gastkommentar“ von Burger wollte sich Kraus „nicht erre-
gen“, dennoch hatte er „eine solch organisierte Aktion nicht vorausgesehen“.355
Kraus, der in seinem Tagebuch festhielt, dass der „Haß auf mich […] sich mit
meinen Erfolgen“356 vermehre, nahm in Leserbriefen zum Sachverhalt Stellung,
schmetterte die Kritik jedoch weitgehend ab und argumentierte, dass eine „Drei-
erjury insoweit ein Problem“ sei, als „zwei Juroren, besonders, wenn sie immer
einer Meinung sind, den dritten stets überstimmen“ könnten und versuchte Bur-
ger den „schwarzen Peter“ zuzuschieben: „Schließlich möchte ich die Öffent-
lichkeit darüber informieren, daß Dr. Rudolf Burger Ministerialrat und Abtei-
lungsleiter pikanterweise des Wissenschaftsministeriums ist; er ist verantwortlich
351 N.
N.: Manès-Sperber-Staatspreis: Jurorenrücktritt. In: Volksstimme, 20.
November 1987, S. 9.
352 Vgl. Sigrid Löffler: Geschobene Geschichte? In: profil, 23. November 1987, S. 96–98. Löffler
zitiert Emil Brix, der über die Entscheidung des Ministers folgendes verlautbaren ließ: „Es wur-
den zwei Kandidaten favorisiert und an den Minister herangetragen. Zwar stand es 2 : 1 für
Oswald Wiener, aber er hat doch mit Sperber überhaupt nix zu tun: Magris hingegen steht
Sperber sehr nahe und ist ihm und seinem Werk sehr verbunden. Jury-Voten können für einen
Minister nicht bindend sein. Da muß es doch Abweichungen geben können.“
353 Rudolf Burger: Eine Art anderer. Warum Oswald Wiener keinen Staatspreis bekommen darf.
In: profil, Nr. 48, 30. November 1987, S. 100 f., hier S. 101.
354 Ebd.
355 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 3. Dezember 1987, NL WK.
356 Ders.: Tagebuch, 25. November 1987, ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
274 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437