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Im Zuge der Propagierung seiner österreichischen Literatur war es Kraus stets
um mehr als nur eine Literatur zu tun. Er rekonstruierte einen imaginären, poly-
phonen literarischen Raum, der eine Nationalliteratur aus dem Geist der Donau-
monarchie beschwor und sich als anschlussfähig an den Rest des kleinen Öster-
reich nach 1918 erweisen sollte, dem die Zweite Republik – dabei wohlweislich
den austrofaschistischen Ständestaat, also die Zeit zwischen 1934 und 1938
umschiffend –, ihre Traditionen verdankte. Während er der zeitgenössischen
literarischen Avantgarde eher skeptisch gegenüberstand und den experimentel-
len Strömungen generell nur wenig Bedeutung beimaß, favorisierte und propa-
gierte er, was ihn von anderen Intellektuellen katholischer Prägung maßgeblich
unterscheidet, die klassische Wiener Moderne. Für Kraus sollte sich die jüngere
Generation von Autorinnen und Autoren der „Auseinandersetzung mit dem
Erbe und die Verwandlung von Vergangenheit in Zukunft“458 widmen, und die-
se Aufgabe sah er in den Werken von u. a. Herbert Eisenreich, Humbert Fink,
Fritz Habeck oder Peter von Tramin verwirklicht. In der seit den 1950er Jahren
vorherrschenden Polarisierung zwischen einer österreichischen Staatsliteratur,
die vor allem innerhalb des Landes rezipiert und forciert wurde, und einer „expe-
rimentellen Underground-Literatur, die sich im günstigeren literarischen Klima
der Bundesrepublik um Kenntnisnahme bemühte“459, zeigt sich Kraus eben als
ein Exponent jener prolongierten Tradition, die der Kontinuität einer National-
literatur verpflichtet ist und nicht der radikalen Brüche.
Kraus arbeitete in der Folge vor allem an einem zwar stark an restaurativen
Tendenzen festhaltenden kulturpolitischen Überbau mit, dabei versuchte er aber
auf den in den 1950er Jahren „ökonomisch wie kulturell“ eingeschlagenen „fal-
sche[n] Kurs“460 korrigierend einzuwirken, indem er etwa in seine Konzepte
auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Exils integrierte. Er näherte sich
mit seinem Wirken zunehmend politischen Strukturen an, die zwar mit Litera-
turkritik, Förderungsprinzipien und Preisvergaben in Zusammenhang standen
und mit diesen literaturbetrieblichen Praktiken verbunden waren, jedoch ver-
stärkt kulturpolitischen Überlegungen zurechenbar sind, die im folgenden Kapi-
tel dargestellt werden sollen. Seine Tätigkeit im literarischen Feld führte Kraus
dabei in jenes Feld der Macht, dem er eigentlich kritisch gegenüberstand: „Die
Gunst eines Beamten, sei es nur eines Ministerialrats, geschweige eines Sektion-
458 Wolfgang Kraus: Koexistenz der Zeiten und Völker. Vergangenheit und Gegenwart der öster-
reichischen Literatur. In: Modern Austrian Literature 1 (1968), H. 2, S. 39–42, hier S. 42.
459 Kruntorad: Charakteristika der Literaturentwicklung in Österreich 1945–1967. In: Fischer
(Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, S. 650.
460 Georg Schmid: Die falschen Fuffziger. Kulturpolitische Tendenzen der fünfziger Jahre. In: Frie-
dbert Aspetsberger, Norbert Frei, Hubert Lengauer (Hg.): Literatur der Nachkriegszeit und der
fünfziger Jahre in Österreich. Wien: ÖBV 1984 (= Schriften des Instituts für Österreichkunde
44/45), S. 7–23, hier S. 10.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Resümee 295
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437