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lien und die Paulusbriefe ein Maß an Liebe, Langmut und Verzeihen verlangen,
das überhaupt nicht aufgebracht werden kann. Wenn hier zuviel verlangt wird,
dann aber in einer Richtung, die zum Zusammenleben der Menschen in Frie-
den führen würde. Nicht jene Eigenschaften, die destruieren, sondern jene, die
kultivieren, werden gefordert. Sie sind Kultur.“28
Diese um Ausgleich bemühten Worte, die gleichermaßen Kraus’ Credo auf
eine religiöse Ebene heben und vermutlich in seiner Praxis als Verwalter und
Ausführender staatlicher Kulturpolitik nicht einlösbar waren, verdeutlichen,
dass seine kulturpolitischen Überlegungen auch religiösen Aspekten folgten
(vgl. Kap. 4.1.3), ja der katholische Glauben an sich für ihn eine Wegmarke
war.
In einem längeren Essay, der sich vermutlich auch seiner Tätigkeit in der
„Kulturkontaktstelle“ im Außenministerium verdankte, bündelte Kraus seine
Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von „Kultur“ und „Staat“. Hier sieht
er es vor allem in der Verantwortung der jeweiligen Staatsbürgerin bzw. des
jeweiligen Staatsbürgers, selbst dafür Sorge zu tragen, ein kulturelles Bewusst-
sein zu entwickeln:
Der trotz wirtschaftliche[r] Krisen immer noch immens reiche Westen ist dabei,
einer falschen und einseitigen Ernährung durch Unkenntnis zum Opfer zu fallen.
Obwohl sich die Tische biegen, die Menschen ihren Besitz multiplizieren, geht
ihnen ein Grundnahrungsmittel ab, als wüßten sie nicht, daß man auf Vitamine
zu achten habe. In gewisser Weise verhungern sie trotz körperlichem Übergewicht.
Sie greifen süchtig stets nach der materiellen Seite und sind sich nicht klar darü-
ber, daß ohne kulturelles Bewußtsein dies alles ohne Wert bleibt.29
Eines der Hauptprobleme der Kultur in den westlichen Demokratien verortet
Kraus „in ihrem heimatlosen Schweben zwischen dem freien Markt, der sich auf
Grund seiner Mehrheitslage auf Massenkonsum orientiert, und der Gleichgül-
tigkeit der Regierungen“.30
Ein Aspekt, der Kraus im Vergleich mit den totalitären Systemen zentral
erschien, war nicht so zynisch gemeint, wie er zunächst anmuten mag: „So sehr
in den kommunistischen Oststaaten die Kultur staatlich deformiert wird, erfährt
sie gleichzeitig durch die konkreten Forderungen, die mit Druckmitteln durch-
gesetzt werden sollen, eine ungeheure Provokation. In den verborgenen oder
halboffenen Oppositionen entstehen meist staunenswerte kulturelle Leistun-
28 Ebd., S. 148.
29 Wolfgang Kraus: Kultur und Staat. Gegen feudale und demokratische Missverständnisse. In:
Literatur und Kritik 14 (1979), H. 138, S. 451–464, hier S. 456.
30 Ebd., S. 458.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
304 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437