Seite - 352 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Aufschlussreich hinsichtlich der Selbstrepräsentation Österreichs sind der
Entscheidungsprozess und die Verleihung des Literaturpreises im Zuge der „Euro-
palia 88“ an Ilse Aichinger. Kraus konnte hier seine Kandidatin durchsetzen,
wobei seine Vorschläge hinsichtlich der Preisträgerin bzw. des Preisträgers Alo-
is Brandstetter, Kurt Klinger, Matthias Mander, Christine Busta, Fritz Hochwäl-
der, Gerald Stourzh, Norbert Leser, Ilse Aichinger, und Peter Handke umfassten.
Schließlich sollte Aichinger den mit 160.000 Schilling dotierten Preis erhalten,
der am 20.
Oktober 1987 in Brüssel überreicht wurde.250 Für Kraus war dies vor
allem ein politischer Schachzug, denn Aichingers Werk sei „wenigstens politisch
überhaupt nicht besetzt – das ist schon eine Absage an die Linke“251, hielt er im
Tagebuch fest.
Zunächst gab es aber noch ein Problem mit Aichingers Status, denn sie war
durch ihre Ehe mit dem Schriftsteller Günter Eich deutsche Staatsbürgerin. Kraus
intervenierte beim Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten, da die
Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Aichinger im Interesse
des Staates stehe: „Im Wege von Herrn Dr.
Wolfgang KRAUS wurde dem B[un-
des]M[inisterium] [für] A[uswärtige]A[ngelegenheiten] bekannt, daß Sie den
Wunsch haben, die österreichische Staatsbürgerschaft wieder zu erwerben“, wobei
dies gemäß „§ 10 Abs. 4 des StbG 1985“252 in Frage komme. Kraus verfasste ein
Dossier zugunsten Aichingers, in dem er festhielt: „Aichinger wurde 1921 als
österreichische Staatsbürgerin geboren, hat durch ihre Ehe mit Günther Eich
später diese Staatsbürgerschaft verloren und jene der [BRD] übernommen“.253
Wie er anmerkte, wurde Aichinger „selbstverständlich von allen staatlichen kul-
turellen Stellen in Wien weiterhin als Österreicherin angesehen und erhielt auch
alle Preise und Förderungen, die nur für Österreicher in Frage kommen.“254
Hinsichtlich Aichingers literaturgeschichtlicher Bedeutung für Österreich hielt
er fest: „Selbstverständlich wurde Ilse Aichinger in allen literaturgeschichtlichen
Darstellungen als Österreicherin eingeordnet und der österreichischen Literatur
zugezählt. […] Es erscheint mir die Meinung, daß eine Autorin durch Verehe-
lichung und den damit verbundenen Wechsel der Staatsbürgerschaft aus der
Literatur ihres Heimatlandes austritt, als ungewöhnlich und unhaltbar, sie wird
auch in der Literaturgeschichte nirgends gehandhabt.“255
250 N.
N.: Ilse Aichinger erhielt den Literaturpreis der Europalia. In: Die Presse, 23./24.
Mai 1987.
251 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 22. Mai 1987, NL WK.
252 Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten an Ilse Aichinger, 10.
Juli 1987, ÖGL-Ar-
chiv.
253 Brief von Wolfgang Kraus beigeheftet: An das Büro der Europalia, 10.
Juni 1987, ÖGL-Archiv.
254 Ebd.
255 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
352 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437