Seite - 380 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Ein Serie von Artikeln über eine Reise in die Sowjetunion wurde etwa vom
kommunistischen „Tagebuch“ heftig kritisiert, das sich daran störte, dass Kraus
nach einer dreieinhalbwöchigen Reise durch die Sowjetunion festgestellt hatte,
das „hervorstechendste Merkmal im heutigen kulturellen Leben der UdSSR“108
sei die Angst. Das „Tagebuch“ zeigte sich irritiert ob einer solchen Feststellung,
hatte Kraus sich doch „durch seine Good-will-Reisen in die Ostländer einen
(guten) Namen gemacht“ und sein „Bemühen“ als „vermittelnd, brückenschla-
gend, barrierenwegräumend“109 bezeichnet.
Kraus widmete sich in seiner Praxis als Rezensent verstärkt jenen Werken
östlicher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die den von Moskau ausgehen-
den kulturellen Oppressionen gewidmet waren. Er berichtete z. B. über den
Schauprozess gegen Juli Markowitsch Daniel und Andrei Sinjawski, die unter
Pseudonymen kritische unerwünschte Texte im Westen veröffentlichten,110 über
die durch den Schriftsteller Valerij Tarsis bekanntgewordene sowjetische Praxis
der Psychiatrisierung oppositioneller Schriftstellerinnen und Schriftsteller,111
die Rolle der Intellektuellen bei den Prager Ereignissen von 1968 oder über ihm
nahestehende Dissidenten wie Efim Etkind und Lew Kopelew. Etkinds Erinne-
rungsbuch Unblutige Hinrichtung. Warum ich die Sowjetunion verlassen mußte,
das 1978 in deutscher Übersetzung erschien, hat Kraus zufolge die „Bedeutung
von Arthur Koestlers ‚Sonnenfinsternis‘ für die gegenwärtige Phase in der UdS-
SR“.112 Kraus hob stets auch die Verantwortung des Westens in Bezug auf die
Unterstützung regimekritischer Intellektueller im Osten hervor, denn die „kom-
munistischen Regierungen sollten wissen, daß es doch nicht ganz ungefährlich
ist, die Kultur ihres Landes abzuwürgen. Der Westen ist sich noch immer nicht
bewußt, wie groß seine Möglichkeiten sind, die Entwicklungen in Osteuropa zu
beeinflussen.“113
Trotz seiner großen Erfolge auf publizistischem Gebiet klagte Kraus auch über
Sorgen. Kurz nach der Publikation seines ersten Essaybandes Der fünfte Stand
108 N. N.: T[age]b[uch] notiert... In: Tagebuch 18 (1963), Nr. 9, S. 2.
109 Ebd.
110 Wolfgang Kraus: Moskaus Sorgen mit den Literaten wachsen. Die Hintergründe der Prozesse
gegen Daniel und Sinjawski – Warum durfte Tarsis in den Westen? In: Kölnische Rundschau,
28. Mai 1966.
111 Vgl. Ders.: Normalität der Intellektuellen. In: Friedrich Hitzer (Hg.): Bundesrepublik Deutsch-
land – Sowjetunion. Offenheit gegen Offenheit. Meinungen – Kontroversen – Dialoge. Köln:
Pahl-Rugenstein 1978, S. 257–258.
112 Ders.: War Stalin nur ein Stümper? Die verlorene Persönlichkeit – Politische Psychiatrie in der
UdSSR. In: Stuttgarter Zeitung, Literaturblatt, Mai 1978, Nr. 126.
113 Ders.: Wann vergessen wir östliche Autoren? Gefahr einer Fehlentwicklung, ms. Ts., Oktober
1971, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
380 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437