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(1966) schrieb er in einem Brief an Sperber, dass der Slawist und Übersetzer
Peter Urban ein „gewaltiges Pamphlet gegen mein Buch“ in „Literatur und Kri-
tik“ publiziert habe: „Es strotzt vor Wichtigtuerei und kaum verhohlener kom-
munistischer Aggression“.114 Mit dem ‚Aufbruch der Intellektuellen in West und
Ost‘, denen Kraus das Buch widmete, verdeutlichte er eine gewisse Programma-
tik, für die er eine breite internationale Rezeption und viel Lob erfuhr. Inhaltlich
bezieht sich Kraus auf die Herkunft, Struktur sowie die Rolle der Intellektuellen
in den Ost- und Weststaaten. Durch seine Kenntnis und Anschauung der Ost-
länder und des jeweiligen verschiedenen geistigen Klimas versuchte Kraus eine
Darstellung der phasenreichen Entwicklung der neuen intellektuellen Lage und
konfrontierte die vorherrschenden Ideologien miteinander. Für den Rezensen-
ten Friedrich Heer etwa stellte er das Buch die „Überwindung des Kalten Krie-
ges im geistigen und spirituellen Raum Zentraleuropas“115 dar, und der Schwei-
zer Philosoph und Politologe Arnold Künzli konstatierte, dass noch selten so
„sachlich, so klug und so dialektisch [...] das Ost-West-Verhältnis in Europa
selten dargestellt“116 worden sei.
Für seine Definitionen erntete Kraus aber auch Kritik. Der bereits erwähnte
Peter Urban warf ihm vor, er übernehme „geradezu unkritisch die Termini der
Springer-Presse“ und „die einzelnen Kapitel könnten als Pamphlet einzeln in
kultur-politisch engagierten Zeitschriften des Westens stehen“, würden jedoch
kein „System“ ergeben. Urban störte sich an den von Kraus verwendeten Begrif-
fen, da er vom „sowjetisch kontrollierten Osten“, vom „kommunistischen Ost-
europa“ und „von Ländern, die von Moskau kontrolliert werden“117 schrieb.
Auch in den „Österreichischen Ostheften“ wurden Kraus’ Thesen von Kurt Mar-
ko angegriffen, der das Buch als „östlich inspiriert“ und „Selbstporträt westli-
cher Unausgegorenheit“ bezeichnete. Gleichzeitig meinte Marko, der Essay sei
ein „moralisch-aufrüstendes ‚Sing out Vienna‘“, und er apostrophiert die „blas-
sen Abziehbildchen kommunistischer Chimären“, die Kraus ins Spiel brachte.118
In diesem Kontext sei auch eine Kontroverse aus den 1970er Jahren erwähnt.
Kraus schrieb unter dem Titel „Die Normalität der Intellektuellen“ in „Der Tages-
spiegel“, über die in der „Sowjetunion üblich gewordene Internierung oppositi-
oneller Intellektueller in psychiatrische Kliniken“.119 Dies veranlasste den sow-
114 Ders. an Manès Sperber, 15. April 1967, NL WK.
115 Friedrich Heer: Der fünfte Stand. Aufbruch der Intellektuellen. In: Wiesbadener Kurier,
17. Dezember 1966, Nr. 293.
116 Arnold Künzli: Aufbruch der Intellektuellen. In: Tages-Anzeiger (Zürich), 16.
Dezember 1966.
117 Peter Urban: Zur Diskussion über „Der fünfte Stand“ von Wolfgang Kraus. In: Literatur und
Kritik 2 (1967), H. 14, S. 246–252, hier S. 247.
118 Vgl. Kurt Marko: Ein fünfter Stand? In: Österreichische Osthefte 7 (1967), Nr. 9, S. 246–251.
119 Wolfgang Kraus: Die Normalität der Intellektuellen. In: Friedrich Hitzer (Hg.): Bundesrepub-
lik Deutschland – Sowjetunion Offenheit gegen Offenheit. Meinungen – Kontroversen – Dia-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und der „Marshall Plan for the Mind“ 381
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437