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schaftler sollten dazu beitragen, „die eigene Position in der europäischen Ent-
wicklung besser und kritischer zu erkennen und ihre Möglichkeiten deutlicher
werden zu lassen“.140
Man muss sich in diesem Kontext „vergegenwärtigen, dass es zur Zeit des Kal-
ten Krieges und noch lange später kaum direkte Kontakte zwischen den verschie-
denen Lagern gegeben hatte“ und wer, wie Kraus, „[v]on den ersten Möglichkei-
ten an über die Grenzen ging, wusste mit Notwendigkeit mehr als die anderen“.141
In seiner Rede zum 30-jährigen Bestehen der ÖGL fasste Kraus zusammen, dass
es ihm „durch Hartnäckigkeit und fallweise auch durch die Gunst vorübergehen-
der liberaler Phasen“ gelungen wäre, „wichtige Persönlichkeiten nach Wien“ zu
bringen.142 Kraus nennt u. a. Tibor Déry, Julius Hay, Miroslav Krleža , František
Langer, Stanisław Jerzy Lec, Wassili Aksjonow, Zbigniew Herbert, Sławomir
Mrożek, Stanisław Lem, Eduard Goldstücker, Efim Etkind, Dimitrij
W. Satonsky
und Václav Havel, der bereits 1965 einen Abend in der ÖGL bestritten hatte. Auch
mit einem anderen berühmten Dissidenten, dem Germanisten und Übersetzer
Lew Kopelew, der sich jedoch nicht als solcher verstanden wissen wollte, stand
die ÖGL seit Beginn der 1960er Jahre in Kontakt.
Kopelew, der als Offizier in der Roten Armee 1945 wegen „Mitleids mit dem
Feind“ zu zehn Jahren Straflager verurteilt worden war, lehrte nach seiner Reha-
bilitierung deutsche Literatur und Theaterwissenschaft in Moskau.143 Der eng
mit dem Schriftsteller Heinrich Böll befreundete Kopelew verstand sich während
des Kalten Krieges als „Brückenbauer“ zwischen den Völkern in Ost und West
und entwickelte „als Mahnender, als Streiter für die Menschenrechte […] eine
unvergleichliche Wirksamkeit.“144 1981 wurde ihm während eines Besuchs in der
BRD die Staatsbürgerschaft aberkannt, da er sich für den verbannten sowjeti-
schen Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow eingesetzt hatte.
Die von der ÖGL ausgesprochenen Einladungen an Intellektuelle im Osten
bedurften sorgfältiger Planung sowie einiger Vorsicht, wie Kraus in einem Brief
an Shepard Stone anmerkte:
140 Vgl. Wolfgang Kraus: Aus der Eröffnungsansprache der. „Österreichischen Gesellschaft für
Literatur“, 18. Dezember 1961, NL WK.
141 Endre Kiss: Über den Charme des Homo Aestheticus in einer Welt des eisernen Vorhanges.
In: Bassola, ders. (Hg.): Literatur als Brücke zwischen Ost und West, S. 26–39, hier S. 33 f.
142 Wolfgang Kraus: Rückblick und Stellungnahme zum dreißigjährigen Bestehen der ÖGL,
4. Dezember 1992, 8 Bl., hier Bl. 3, NL WK.
143 Vgl. Widmar Puhl: Dichter für die Freiheit. Von der subversiven Kraft der Literatur in Osteu-
ropa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 (= st 2173), S. 19–21.
144 Werner Keller: Lew Kopelew. Der Schriftsteller und Wissenschaftler, der Freund der Menschen
und Verfechter ihrer Grundrechte. In: Dirk Kemper, Iris Bäcker (Hg.): Deutsch-russische Ger-
manistik. Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Stimmen
der Slavischen Kultur 2008 (= Schriftenreihe d. Thomas-Mann-Lehrstuhl an der RGGU Mos-
kau 1), S. 81–101, hier S. 101.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
386 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437