Seite - 388 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Seit 1966 versuchte die ÖGL, Kopelew einzuladen, scheiterte jedoch. Erst
nach dessen Ausbürgerung im Jahr 1981 nahm er an einer Veranstaltung teil.
Wie Karl Schlögel bemerkt hat, gehörte zur Öffentlichkeit der geteilten Welt
auch „die Unterbindung des freien Meinungsaustausches, des schlichten Wech-
selns von Briefen“.148 Briefwechsel waren auf ein Netzwerk von Beziehungen, zu
dem Persönlichkeiten des internationalen Journalismus und der Diplomatie,
Botschaftsangehörige oder internationale Forschungsorganisationen zählten,
angewiesen, die die dauerhafte Kommunikation ermöglichen mussten und bedurf-
ten darüber hinaus einer besonderen Strategie. So sandte Kopelew etwa zwei
Durchschläge von einem Brief, in dem er klagt, er vermisse seit langem „Nach-
richten von Ihnen, sowie die sonst so großzügigen Bücherspenden“149, an Kraus
in den Westen, einen über den Postweg und einen anderen inoffiziell; der hand-
schriftliche Zusatz auf letzterem vermerkt: „Seit Monaten leide ich unter einer
Post-Sperre, die ich nun doch bekämpfen will. Bitte lassen Sie mich wissen ob
Sie d. 1. Durchschlag v. diesem Brief erhalten haben. Falls nicht, dann können
sie es mir über Frau [Heddy] Pross-Werth[,] die zu mir eine direkte Verbindung
hat, schreiben und dann werde ich offiziell protestieren können. Oder seien Sie
bitte so lieb, und rufen Sie mich an […]“.
Eine Anlaufstelle war die ÖGL auch nach der Niederschlagung des „Prager Früh-
lings“ 1968, als zahlreiche tschechische Intellektuelle nach Österreich flüchteten.
1967 hatte die Krise des politischen Systems in der ČSSR ihren Gipfel erreicht,
einzelne Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern sowie ganze Organisationen
waren in der Reformbewegung lose verbunden, wobei vor allem „die Schrift-
steller am IV.
Kongress ihrer Organisation (dem Verband tschechoslowakischer
Schriftsteller) vom 27. bis 29.
Juni 1967“ im Mittelpunkt standen. Auf dem Kon-
gress erklang aus dem Mund von Ludvík Vaculík, Ivan Klíma, Milan Kundera,
Antonín Liehm, Václav Havel, Pavel Kohout und Karel Kosík explizit eine bisher
beispiellose Kritik am Regime“.150
Der Schriftstellerkongress fand breites Echo innerhalb der tschechoslowaki-
schen Gesellschaft und der KPČ und wirkte „als Katalysator für die weitere Ent-
wicklung“, da es dem Regime nicht gelang, den öffentlichen Versuch einer Revol-
te zu vereiteln: „Die unbesiegten Schriftsteller stellten das bisher tadellose System
148 Karl Schlögel: Ost-Westliche Kassiber. Vom langen Ende einer langen Nachkriegszeit. In: Els-
beth Zylla (Hg.): Heinrich Böll – Lew Kopelew Briefwechsel. Göttingen: Steidl 2011, S. 9–34,
hier S. 22 f.
149 Brief von Lew Kopelew an Wolfgang Kraus, 12. September 1972, NL WK.
150 Jiří Hoppe: Die Aufhebung der Zensur. In: Stefan Karner [u. a.] (Hg.): Prager Frühling. Das
internationale Krisenjahr 1968. Beiträge. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008 (= Veröffent-
lichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Sonderband 9),
S. 115–132, hier S. 119.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
388 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437