Page - 275 - in Gewalt im Computerspiel - Facetten eines Vergnügens
Image of the Page - 275 -
Text of the Page - 275 -
DRAMATISCH UND DEVIANT 273
gedeuteten Gegenwehr. So berichtete mir beispielsweise eines Tages mein Mit-
spieler Lonx, mit dem ich bereits viele Stunden in DayZ verbracht hatte, dass er
zuvor einen unbewaffneten Spieler absichtlich nicht getötet hatte, weil er friendly
sein wollte. Der andere Spieler habe das schamlos ausgenutzt und, als er eine
Waffe gefunden hatte, Lonx kurzerhand erschossen. Von nun an, versprach Lonx,
sei ihm egal, ob andere Spieler Waffen haben oder wehrlos sind. Auf ihn würde ja
schließlich auch jeder sofort schießen. „Deswegen gibt’s jetzt keine Gnade mehr,
Gnade ist ausverkauft“, verkündete er und ließ sein typisches, halb nett und halb
hämisch klingendes Lachen hören. (FT)
Die Rache richtete sich hier nicht gegen eine spezifische Person, weil diese für
Lonx gar nicht wiedererkennbar war, sondern prinzipiell gegen alle unbekannten
Spieler, denen er nun mit präventiver Gegengewalt begegnen wollte. Da die meis-
ten Spieler ähnliche Erfahrungen wie Lonx machen, hat sich in der Spielkultur
von DayZ (so der Spieler Manny im Interview) die Einstellung: „Erst schießen,
dann fragen!“ (IV12), beziehungsweise (wie es der Spieler Wooshy formuliert) das
Motto: „Friss oder stirb!“ (FT), durchgesetzt. So entsteht diskursiv der Eindruck
einer Spielumgebung, in der nur die Starken und Rücksichtslosen überleben.
Auch das ist eine dramatische Aufladung des Spielprozesses, die ähnliche
Konsequenzen haben kann, wie die Narrative in Singleplayer-Games. Als ich
eines Tages mit einer Gruppe aus mehreren Spielern durch die Landschaft von
DayZ zog, begegneten wir einem anderen deutschen Gamer, der uns im spiel-
internen Sprachkanal ansprach und versicherte, er sei friendly und wolle nur
Banditen jagen, also solche Spieler, die andere absichtlich töten und ausrauben.
Als Demonstration seiner guten Absichten senkte er gleich seine Waffe, was ihn
gegenüber unserer Gruppe quasi wehrlos machte. Wir umstellten ihn und zielten
alle auf ihn, während wir in unserem eigenen Sprachkanal berieten, wie mit ihm
zu verfahren sei. Einige wollten ihm glauben und argumentierten, ihn zu töten
sei unfair. Die anderen aber meinten, man könne ihm nicht vertrauen. Mitten in
unserer hitzig werdenden Diskussion gab Lonx dem wehrlosen Spieler kurzer-
hand einen Kopfschuss. Während ich selbst verdutzt über diese virtuelle Exeku-
tion war, nahmen ihn einige andere Spieler in Schutz. Insbesondere der Spieler
Joey versicherte immer wieder, das sei die richtige Entscheidung gewesen. Er
habe schon so viele Leute laufen lassen und immer seien sie ihm in den Rücken
gefallen. In DayZ gelte, so Joey: „Töten oder getötet werden.“ (FT)
„Jetzt gibt’s Krieg!“
Unter Vielspielern kann sich diese prinzipielle Bereitschaft zur präventiven Ge-
gengewalt personalisieren und zuspitzen. Voraussetzung ist, dass sie auf einem
Server regelmäßig wiederkehren und sie nach und nach mit den Nicknamen der
anderen Vielspieler vertraut werden. In einer speziellen Version von DayZ, in
der man sich eigene Häuser aufbauen konnte, lernten die Vielspieler nach ei-
niger Zeit auch die Wohnorte der anderen ServerbewohnerInnen kennen. Wie
oben beschrieben, ist es in dieser Situation möglich, dass sich über Wochen oder
Gewalt im Computerspiel
Facetten eines Vergnügens
- Title
- Gewalt im Computerspiel
- Subtitle
- Facetten eines Vergnügens
- Author
- Christoph Bareither
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3559-5
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 370
- Keywords
- Gewalt, Videospiele, Mediensoziologie, Computerspiel, Kulturanthropologie
- Category
- Medien
Table of contents
- 1. Einleitung 7
- 2. Theorie und Methode 15
- 3. Virtuell-körperlich 93
- 4. Kompetitiv und kooperativ 199
- 5. Dramatisch und deviant 247
- 6. Ambivalent 297
- 7. Zusammenfassung und Ausblick 321
- Literatur und Anhang 333
- Literatur 333
- Verzeichnis der zitierten Computerspielzeitschriftenbeiträge 353
- Verzeichnis der zitierten YouTube-Videos 359
- Verzeichnis der geführten Interviews 364