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12 Einleitung
Art zu bedeckenâ4, mit Lichtenberg zu beantworten : âMenschen-Verstand ist
eine herrliche Sache, allein das unbeholfenste unbrauchbarste Ding von der
Welt bei solchen Gelegenheiten wo man ihn nicht nötig hat. [âŠ] Mit einem
Wort das rechte Werk ist da, aber ihr bringt den rechten Kopf nicht. Wenn ein
Buch und ein Kopf an einander stoĂen und es klingt hohl, ist das allemal im
Buch ?â5 Mit dem bloĂen Verweis auf den âhohlen Kopfâ des populĂ€ren Fern-
sehkritikers, der sich auch gern dem vorauseilend als beschrÀnkt erachteten
Fassungsvermögen seiner Leser- und Zuschauerschaft anbequemt, machte
man es sich aber wohl zu einfach. Das weitgehende UnverstÀndnis, das Reich-
Ranicki insbesondere dem Mann ohne Eigenschaften entgegenbringt, dem er
âerstaunliche NachlĂ€ssigkeitâ und âGeschmacklosigkeitâ nachsagt6, hat durch-
aus Methode und kann als Symptom fĂŒr die nach wie vor wirksame Provoka-
tion gelten, die der Monumentalroman Musils fĂŒr ein breiteres Publikum be-
deutet. Insofern sei es hier zur Einleitung ein wenig ausfĂŒhrlicher betrachtet.
Das Ărgernis des Mann ohne Eigenschaften beginnt fĂŒr den Kritiker schon
bei der stilistischen Machart des Romans, wie er mit Verweis auf einen von
ihm genĂŒsslich referierten âLausbubenstreich [âŠ] in Sachen Musilâ offenbart,
durch den einige âmuntere[ ] Herren unterschiedlichen Altersâ aus der Redak-
tion der Satire-Zeitschrift Pardon im Jahr 1968 den damals schon kanonischen
Text angeblich als âĂŒberschĂ€tztâ entlarvt haben â ein Verdikt, dem sich ânicht
widersprechenâ lasse7, denn : âSprachliche Entgleisungen, StilblĂŒten finden
sich in diesem Roman immer wieder, in erzÀhlenden ebenso wie in journalis-
tischen oder philosophischen Abschnitten, ĂŒbrigens besonders hĂ€ufig, wenn
von Frauen die Rede ist.â8 Die Beispiele, die Reich-Ranicki fĂŒr sein Verdikt an-
fĂŒhrt9, zeigen freilich, dass ihm jede ungewöhnliche bzw. ĂŒberraschende bild-
liche Ausdrucksweise als âStilblĂŒteâ gilt. Und da nun Musils Prosa gerade von
einer solchen, bisweilen verstörenden Bildlichkeit lebt, kann das Unbehagen
des selbst ernannten Literaturpapstes nicht ĂŒberraschen. Wenn es im Roman-
text etwa heiĂt, der spĂ€tere Sektionschef Tuzzi habe als junger Mann âwie ein
4 Ebd., S. 156.
5 Lichtenberg : SudelbĂŒcher I, S. 362 (Nr. 104) ; vgl. ebd., S. 291 (Nr. 399).
6 Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 160. Die âerstaunliche NachlĂ€s-
sigkeitâ der Formulierungen Musils findet ĂŒbrigens eine Entsprechung in jener seines Kritikers,
wenn er etwa an den Vereinigungen lobt, hier werde âdas UngenĂŒgen an der ĂŒberkommenen Art
der epischen Darstellung nicht beklagt, sondern tatsĂ€chlich ĂŒberwundenâ (S. 164).
7 Vgl. ebd., S. 166â169, Zit. S. 166 u. 168. Mehr dazu unten im Abschnitt zu Ulrich und Gerda aus
Kap. II.3.1 sowie in Martens : âRettet den Mann ohne Eigenschaften !â, S. 456 f.
8 Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 169.
9 Vgl. ebd., S. 170.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208