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24 Einleitung
Ausgangspunkt ist jene âTrennungâ der Diskurse, die jeder Vergesellschaf-
tung zugrunde liegt.60 Vor diesem Hintergrund profiliert er die (von Fou-
cault so nicht thematisierte61) âinterdiskursive Funktionâ des literarischen
Diskurses, worin er dessen Besonderheit sieht, die vor allem âin Krisenzei-
ten [âŠ] des gesamten Diskurssystemsâ aktiviert werde, in denen es âdem
Literarischenâ darum gehe, âseine diskursive Dynamikâ zurĂŒckzugewinnen
und sich âdadurch zu einem positiven Instrument in der Kriseâ zu verwan-
deln.62 Mosers vorrangiges Interesse gilt deshalb weniger den narrativen als
vielmehr den essayistischen Passagen des Mann ohne Eigenschaften. Diese
methodologisch begrĂŒndete Vorentscheidung hat weitreichende interpreta-
torische Konsequenzen : So meint der Diskurstheoretiker, die erzÀhlerische
Substanz des Romans sei âin Wirklichkeit zweitrangigâ63 : âDie Geschichte
allein wirkt banal, denn das Wesentliche am Text liegt nicht in der eigentli-
chen ErzĂ€hlung.â64 Es gehe dem Autor vielmehr darum, âunter diesem MĂ€n-
telchen den Essay einschleusen [zu] könnenâ : âDer Essay wird gewisser-
maĂen zum Trojanischen Pferd, das Musil erlauben soll, die interdiskursive
Beweglichkeit des literarischen Diskurses zurĂŒckzuerobern.â65 Eine StĂŒtze
von dessen Antrittsvorlesung Lâordre du discours (1971), auf die sich Moser dabei ausdrĂŒcklich be-
ruft â und erst in zweiter Linie auch auf Tzvetan Todorov und Roland Barthes (vgl. ebd., S. 190,
Anm. 3) â, haben solche Vorstellungen von schriftstellerischer Ausnahmestellung, IntentionalitĂ€t
und Einflussnahme nicht allzu viel gemein.
60 Er stĂŒtzt sich dabei ebd., S. 179, auf folgende Diagnose aus Barthes : Sade Fourier Loyola, S. 169 :
âIn jeder Gesellschaft wird offenbar die Trennung der Sprachen beachtet, als ob jede von ihnen
[âŠ] mit einer fĂŒr entgegengesetzt gehaltenen Sprache nicht in Kontakt treten könnte, ohne eine
soziale Explosion zu verursachen.â Bei Barthes ist zwar die Eigendynamik sozialer Mikrokos-
men, aber nicht die âExplosionâ bei deren gegenseitigem Kontakt auf der Ebene des Diskurses
angesiedelt.
61 Vgl. allerdings Foucault : ArchĂ€ologie des Wissens, S. 225â228, wo der Begriff der âinter
diskur siÂ
ve[n] Konfigurationâ (S. 226) eingefĂŒhrt wird ; mehr dazu bei Link/Link-Heer : Diskurs/Interdis-
kurs und Literaturanalyse, S. 92.
62 Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 170 u. 174, wo auch konkrete historische Aspekte
zumindest erwÀhnt werden ; vgl. auch ebd., S. 188 f.
63 Ebd., S. 176.
64 Ebd., S. 177.
65 Ebd., S. 176. Moser befindet sich dabei in der 1961/1966 von Albrecht Schöne eröffneten Deu-
tungstradition ; vgl. Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, wo zum Mann ohne
Eigenschaften festgestellt wird : âSein auf eine notdĂŒrftige Fabel reduziertes Geschehen dient
wesentlich dazu, AnlaĂ und Gegenstand zu liefern fĂŒr die Reflexion der Romanfiguren und
des ErzĂ€hlers, die damit den Handlungskern breit ĂŒberwuchert, dient andererseits dazu, die
nachdenkenden Figuren in Situationen zu bringen, in denen ihr Reflektieren glaubwĂŒrdig und
ungestört vor sich gehen kann.â (S. 24) Mehr noch : âDie Reflexionen ĂŒbernehmen gleichsam
die Funktion des Geschehens, sie selber sind die âHandlungâ dieses Romans und bilden in ihrer
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208