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26 Einleitung
Motiv : Ulrichs Liebe zu seiner Schwester. Das hat alles nichts mit einem Essay zu
tun.71
Auch schriftlich reagiert Musil am 4. MĂ€rz 1931 auf die Ansicht des Kritikers
Petry, âdaĂ es den âRomanâ nicht mehr geben könneâ, mit dem Hinweis, es
handle sich bei der in Frage stehenden erzÀhlenden Gattung nicht notwendig
um eine âeinbildungsreiche, gegenstĂ€ndliche Spiegelung eines geschlossenen
Weltbildsâ ; solchen âdogmatischenâ Gattungsdefinitionen hĂ€lt er entgegen :
âDas ist eine Ausnahmemöglichkeit, aber nicht das Wesen der Prosaâ, eben
nur âeine Form zu bestimmten Inhaltenâ (BrN 13). In Abgrenzung davon be-
nennt er sein eigenes kĂŒnstlerisches Pensum : â[D]ie Aufgabe von heute [âŠ]
besteht fĂŒr mich darin, die Form des Romans nicht aufzugeben, sondern auf-
nahmefĂ€hig fĂŒr Inhalte zu machen, die ihr neu erwachsen sind.â (BrN 13) Von
einer veritablen âAuflösungsstrategieâ, ja davon, dass Musil âvon Anfang an
dem Roman als Gattung gegenĂŒber eine kritische Distanz gewahrtâ habe72,
kann also nicht die Rede sein, zumindest nicht im Sinn eines intentionalen
Programms.73
Entscheidender noch als die Selbstkommentare des Autors, die ja keinen
privilegierten Zugang zum vorliegenden Romantext vermitteln, ist dessen
konkrete Gestalt. So kann die darin erzĂ€hlte Geschichte wohl kaum als âbanalâ
bezeichnet werden, denn sie hat wenig bis gar nichts mit den herkömmlichen
Plots von Romanen gemein. Gerade die von Moser selbst betonte relative
Handlungsarmut74 bzw. die korrelative Bedeutung von Gedanken, Ăberlegun-
gen und GesprÀchen unterscheidet den Mann ohne Eigenschaften augenfÀllig
von trivialen Vertretern des Genres. Entsprechendes gilt fĂŒr die um herkömm-
liche Moralvorstellungen völlig unbekĂŒmmerte thematische Dimension, nicht
nur hinsichtlich der Inzestproblematik. TatsĂ€chlich ist âdas bei Musil so eigen-
artige Zusammenspiel des narrativen mit dem essayistischen Schreibenâ ein
zentrales Strukturelement des Romans, wobei der Essayismus ânicht mehr als
der Einschub eines fremden Elements in die ErzĂ€hlung verstanden werdenâ
kann und âauch nicht als eine Zugabe, die leicht auszumachen und zu ampu-
71 Vgl. Rasch : Erinnerung an Robert Musil, S. 14.
72 So Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 176.
73 Im Gegenteil : Musil spricht sich ausdrĂŒcklich gegen jene Auflösungstendenz aus, die er bei
Proust und Joyce wahrzunehmen meint ; vgl. den Brief an Johannes von Allesch vom 15.3.1931
(Br 1, 504) sowie die kritische Nachlass-Notiz Joyce (GW 7, 858) ; mehr dazu unten in den Kap.
I.2.2 u. III.1.2.
74 Vgl. Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 177.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208