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30 Einleitung
besondere das âGeredeâ der Parallelaktion (M I/1/32) im Ersten Buch â er-
schlieĂen aufgrund ihrer rhetorischen Schablonenhaftigkeit und ideologischen
Verbohrtheit die erzÀhlte soziale Welt allerdings in keiner Weise, sondern
werden als ideologiegeschichtliches Material selbst erzÀhlerisch instrumen-
talisiert und essayistisch perspektiviert, um Aussagekraft zu erhalten. Die sich
als postmodern verstehenden Deutungen haben den Aspekt der leerlaufenden
Rhetorik des Romanpersonals denn auch mit groĂer Insistenz herausgestri-
chen, weshalb sie die Annahme eines welterschlieĂenden Anspruchs auch des
Romans im Ganzen verwarfen. So meinte Hartmut Böhme, âdaĂ der Text in
keinem mimetischen VerhÀltnis mehr zu irgendeiner RealitÀt steht. Es gibt nur
Zeichen, Diskurse, Stile, allgemein : das Semiotische â und um dessen Struk-
tur bewegt sich der Text.â90 Dieser Befund stĂŒtzt sich mit einigem Recht auf
das erste Kapitel, das den bezeichnenden Titel trĂ€gt : âWoraus bemerkenswer-
ter Weise nichts hervorgehtâ (MoE 9). Böhme vertritt indes den Anspruch,
damit den gesamten Romantext zu charakterisieren, in dem âdas VerhĂ€ltnis
von Wort und Ding nicht mehr ein das Ding im Wort ReprĂ€sentierendesâ
sei.91 Die solcherart postulierte âEingeschlossenheitâ des Romanpersonals âin
die imaginĂ€re Welt referenzlosen Sprechensâ92 mache jede historisch-soziale
Codierung, ja jede ĂŒber die engeren Textgrenzen hinausweisende Distinkti-
onsbildung nichtig : âUlrich streicht sich zu Beginn als historisch und sozial
bestimmtes Subjekt durch, um in die dezentrale Position eines Denkens zu
rĂŒcken, welches die Zeichen der Katastrophe zu dechiffrieren vermag.â93 Wel-
cher Katastrophe, mag man sich fragen, und was heiĂt Dechiffrierung von
Zeichen, wenn es doch angeblich keine Referenz, ja ĂŒberhaupt keinen (wie
immer gearteten) âRealitĂ€tsbezugâ des Textes gibt ? Die im Roman durchaus
anzutreffenden, hĂ€ufig sogar ĂŒberdeutlichen historisch-sozialen Codierungen
werden in einer solchen Deutung einfach selbst rhetorisch eskamotiert, weil
sie nicht ins postmoderne Weltbild passen, das schon im modernen Roman zu
finden sein soll.
Wenn Böhme mit gutem Grund konstatiert, dass sich die im Roman ver-
handelten Diskurse âals eigenartig ordnungslos, porös, instabil, diskontinuier-
lich, brĂŒchig entlarvenâ94, dann blendet er jedoch zugleich aus, dass just diese
Diskurse in einem jeweils bezeichnenden VerhÀltnis zu den Figuren stehen,
90 Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 309.
91 Ebd.
92 Ebd., S. 310.
93 Ebd., S. 311.
94 Ebd.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208