Page - 35 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 35 -
Text of the Page - 35 -
35Die
MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung
genauer analysierten108) Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten
ins Tausendste (1922) vom âungeheure[n] Optimismusâ, der darin bestehe, dass
âwir mit unsrem Sein nicht an der Spule irgendwelcher Schicksalspopanze
[hĂ€ngen], sondern [âŠ] selbst den Ausschlag geben [können]â, und beklagt
in diesem Zusammenhang, das âGefĂŒhlâ menschlicher Selbstbestimmung sei
âunsâ in der Moderne âverlorengegangenâ (GW 8, 1082). Aus solchen Worten
spricht eine insgesamt durchaus aufklÀrerische Zielsetzung, denn die Kritik
am Verlust menschlicher Autonomie impliziert bei aller ironischen AbgeklÀrt-
heit zweifelsohne ein BedĂŒrfnis, das einmal Verlorene wiederzuerlangen bzw.
dies wenigstens anzustreben. Folgt man dieser interpretatorischen Tendenz,
dann prÀsentiert sich die konzeptionelle Anlage des Mann ohne Eigenschaften
keineswegs eindimensional als Vorwegnahme zentraler Theoreme der Post-
moderne109, sondern könnte mit Àhnlichem Recht als eine geradezu antipost-
moderne Kampfschrift gelesen werden110 (was freilich nicht die Intention der
vorliegenden Arbeit ist).
Der Eindruck einer ZurĂŒckweisung der Vorstellung völliger Ordnungslo-
sigkeit und Beliebigkeit des physikalischen und sozialen Geschehens durch
Musil lÀsst sich an anderer Stelle erhÀrten. So gibt er in seiner Spengler-Re-
zension Geist und Erfahrung. Anmerkungen fĂŒr Leser, welche dem Untergang des
Abendlandes entronnen sind (1921) gegen radikale Formen historistischer oder
kulturalistischer Relativierung relativ unmissverstÀndlich zu bedenken :
Spengler sagt : Es gebe keine Wirklichkeit. Natur sei eine Funktion der Kultur. Kul-
turen seien die letzte uns erreichbare Wirklichkeit. Der Skeptizismus unsrer letzten
Phase mĂŒsse historisch sein. Warum haben aber die Hebel zur Zeit des Archimedes
oder die Keile im PalÀolithikum genau so gewirkt wie heute ? Warum vermag sogar
ein Affe einen Hebel oder einen Stein so zu gebrauchen, als wĂŒĂte er von Statik
und Festigkeitslehre, und ein Panther aus der Spur auf die Beute zu schlieĂen, als
wĂŒĂte er von KausalitĂ€t ? Will man nicht annehmen, daĂ eine gemeinsame Kultur
auch Affe, Steinmensch, Archimedes und Panther verbindet, so bleibt wohl nichts an-
deres ĂŒbrig als ein gemeinsames Regulativ anzunehmen, das auĂerhalb der Subjekte
liegt, also eine Erfahrung, die der Erweiterung und Verfeinerung fÀhig sein könnte,
die Möglichkeit eines Erkennens, irgendeine Fassung von Wahrheit, des Fortschritts,
108 Vgl. Kap. I.2.1.
109 So aber lautet mit Blick auf den Romantext die zentrale These von Hofmann : Musil und Lyo-
tard, der eine gewisse Triftigkeit sicherlich nicht abzusprechen ist.
110 In diese Richtung und vor allem unter Verweis auf Musils Spengler-Essay Geist und Erfahrung.
Anmerkungen fĂŒr Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921) argumentiert
Bouveresse : Musil, die Macht des Faktischen und der Wert des Wahren, S. 30â32.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208