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Teil I:
Grundlegung50
Mit der soziologischen Analyse lĂ€Ăt sich sogar der (gewöhnlich in Wert-Begriffen
erfaĂte) Unterschied erklĂ€ren zwischen solchen Werken, die das reine Produkt eines
bestimmten Milieus und Marktes sind, und solchen, die ihren Markt allererst selbst
hervorbringen mĂŒssen und die sogar zur Umwandlung ihres Milieus beizutragen ver-
mögen : dank jener Befreiungsarbeit, aus der sie selbst hervorgegangen sind und die
sich zum Teil ĂŒber die Objektivierung dieses Milieus vollzogen hat.33
Die von Bourdieu an Flaubert diagnostizierte âWeigerungâ, an den sozialen
Konventionen und Spielen seiner Epoche âteilzunehmen, abhĂ€ngig zu sein
oder klassifiziert zu werdenâ34, ist in Ă€hnlicher Weise an Robert Musil sowie
an seinem Alter Ego Ulrich zu beobachten, wie noch zu zeigen sein wird. In-
sofern verspricht der sozioanalytisch geschÀrfte Blick auch in diesem Fall neue
Einblicke in ein bereits vielmals interpretiertes Werk und in eine spezifische
schriftstellerische Strategie.
Entscheidend an der genuinen Leistung des Schriftstellers ist fĂŒr Bourdieu
im Unterschied zur wissenschaftlichen Analyse die Ă€sthetische âArbeit an
der Formâ, die ihrerseits âdie partielle Anamnese tiefsitzender und verdrĂ€ng-
ter Strukturen ermöglichtâ35 ; âselbst der dem Formexperiment huldigende
Schriftstellerâ wirke âunwillkĂŒrlich als Medium von (sozialen oder psycholo-
gischen) Strukturenâ, âdie durch ihn und seine Arbeit an den induzierenden
Wörtern [âŠ] zur Objektivierung kommenâ.36 Bourdieu behauptet sogar, dass
âdas literarische Werk manchmal mehr [âŠ] ĂŒber die soziale Welt aussagen
kann als so manche vorgeblich wissenschaftliche Schriftâ, indem seine âsinn-
lich wahrnehmbare Ăbertragung [âŠ] die Strukturâ verschleiere, und zwar
âin der Form selbst, in der sie sie darstellt und dank der es ihr gelingt, einen
Glaubenseffekt (und weniger RealitĂ€tseffekt) hervorzubringenâ.37 Wie ist diese
33 Ebd.
34 Ebd., S. 173, Anm. 116.
35 Ebd., S. 20. In diesem Zusammenhang sei betont, dass Bourdieu den klassischen Gegensatz
zwischen âĂ€uĂerenâ sozialen und âinnerenâ textuellen Faktoren aufhebt, indem er Ă€sthetische
Formgebung selbst zum sozialen Akt erklĂ€rt ; vgl. Bourdieu : âTout est social !â, S. 110 : âLe style,
la forme, autant que les droits dâauteur, les rapports avec lâĂ©diteur ou avec les autres auteurs,
etc. [âŠ] Dire que tout est social, câest simplement dire quâil nây a pas de transcendance, et que
lâĂ©criture, avec toutes ses spĂ©cificitĂ©s, reste un phĂ©nomĂšne social quâon ne peut pas expliquer
autrement que par le social.â Bezeichnenderweise wird dieser fĂŒr Bourdieu fundamentale Ge-
danke, der sich auch als Antwort auf Derridas berĂŒhmte immanentistische Formel âil nây a pas
de hors-texteâ verstehen lĂ€sst, in der Bourdieu-Kritik meist eskamotiert ; vgl. etwa SĂ©ginger :
Flaubert contre Flaubert, S. 87 u. passim.
36 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 20.
37 Ebd., S. 66 ; vgl. auch S. 67 f.: âDie Form, in der sich die literarische Objektivierung Ă€uĂert, er-
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208