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Teil I:
Grundlegung54
Strukturen, die der Schriftsteller wie jeder soziale Akteur in praktischem Zustand in
sich trĂ€gt, ohne daĂ er sie völlig unter Kontrolle hĂ€tte, ĂŒber diese Arbeit an der Form
ins Werk ĂŒbertragen werden, ĂŒber die sich auch die Anamnese alles dessen vollzieht,
was gewöhnlich unter den Mechanismen der leerlaufenden Sprache in implizitem
oder unbewuĂtem Zustand verborgen bleibt.49
Die spezifische Art der sinnlichen Vermittlung, welche die Literatur von an-
deren Formen schriftsprachlicher Kommunikation unterscheidet, fĂŒhrt auch
zu einer ganz spezifischen Art der Rezeption, welche die LektĂŒre vor andere
Aufgaben stellt als jene wissenschaftlicher oder auch nur informativer Texte :
Aus dem Schreiben schlieĂlich ein zugleich formales und materielles Experimen-
tieren zu machen mit dem Ziel, den Wörtern die gesteigerte Erfahrung des Realen
mitzuteilen, die sie im Geist des Schriftstellers selbst mit hervorgebracht haben, und
zwar den dazu formal geeignetsten : das nötigt den Leser, bei der sinnlichen Form des
Textes innezuhalten, einem sichtbaren und hörbaren Stoff, der Korrespondenzen mit
dem Realen auf der Ebene des Sinns wie des Sinnlichen birgt, statt sie wie ein trans-
parentes Zeichen â gelesen, aber nicht gesehen â zu ĂŒberfliegen, um direkt zum Sinn
zu gelangen. Damit wird der Leser gezwungen, die intensivierte Sicht des Realen zu
entdecken, die diesem durch die in der Arbeit des Schreibens vollzogene Evokation
eingeschrieben wurde.50
Auch Musils essayistische und stark selbstreferenzielle Schreibweise vermit-
telt einen âintensivierten Blick auf eine intensivierte Darstellung des Realenâ,
âeines Realen, das durch die Konventionen und alltĂ€glichen Normen systema-
tisch ausgeblendet wirdâ51, und löst gerade durch die konsequente Verfrem-
49 Ebd., S. 180.
50 Ebd.
51 Ebd. Der schwierige Begriff des âRealenâ wird von Bourdieu nirgends definiert. Eine gewisse
Analogie zur psychoanalytisch-strukturalistischen Terminologie Jacques Lacans kann aber
angenommen werden ; vgl. Bowie : Lacan, S. 93 : âLacan zufolge kommt das Reale in seiner
Bedeutung [âŠ] dem âUnbeschreiblichenâ oder dem âUnmöglichenâ nahe. [âŠ] Es ist [âŠ] ein
praktisches Instrument der Analyse.â Was mit solchen ein wenig raunenden Worten gemeint
sein könnte, wird in Zitaten wie den folgenden deutlicher : â[D]as Reale oder das, was als sol-
ches wahrgenommen wird, ist das, was der Symbolisierung absolut widersteht.â (Lacan : Freuds
technische Schriften, S. 89) Mit anderen Worten : Das âRealeâ ist âdie DomĂ€ne dessenâ, âwas au-
Ăerhalb der Symbolisierung Bestand hatâ (Lacan : Antwort auf den Kommentar von Jean Hyp-
polite, S. 208). Vgl. dazu Foucault : GesprÀch mit Madeleine Chapsal, S. 665 f., wo Lévi-Strauss
und Lacan die Einsicht zugesprochen wird, âdass Sinn wahrscheinlich nur eine OberflĂ€chener-
scheinung [âŠ] darstellt, wĂ€hrend das eigentliche TiefenphĂ€nomen, von dem wir geprĂ€gt sind,
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208