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66 Teil I: Grundlegung
pologischen Konstante das Wort ? Zielt er auf eine Hypostasierung von âun-
geschichtlichen Wesensbestimmungen des Menschenâ, wie Hartmut Böhme
in den siebziger Jahren behauptet hat ?7 Ist Musil also ein typischer Exponent
des âpolitischen Existenzialismusâ der Zwischenkriegszeit, einer intellektuel-
len Strategie, die darin bestand (und immer noch besteht), akute politische
Kategorien auf problematische Weise mit der Behauptung einer wie immer
gearteten anthropologischen Natur zu verknĂŒpfen ?
FlĂŒchtig betrachtet scheint diese Frage vorbehaltlos bejaht werden zu mĂŒs-
sen, denn als einzige bemerkenswerte mentale VerÀnderung infolge des Kriegs
und der Revolution von 1918 konstatiert Musil eine allgemeine âsehr erstaunte
Unruheâ und intellektuelle âUnsicherheitâ, die nicht allein in Deutschland,
sondern auch in Frankreich, in England und in Italien zu beobachten sei (GW
8, 1076). WĂ€re das die einzige kollektive und transnationale habituelle Folge
des Ersten Weltkriegs, dem von Fachhistorikern immerhin die Funktion einer
wichtigen sozial- und mentalitÀtengeschichtlichen ZÀsur in der neueren euro-
pÀischen Geschichte zugeschrieben wird8, dann hÀtte er in der Tat eher mar-
ginale Bedeutung. Musils Pointe â die wiederum an den Erfahrungsverlust im
Weltkrieg erinnert9 â geht scheinbar in diese Richtung : âSo sieht also Weltge-
schichte in der NĂ€he aus ; man sieht nichts.â (GW 8, 1076) Den naheliegenden
Einwand, seine zu groĂe zeitliche NĂ€he verhindere noch ein analytisches âUr-
teil ĂŒber GegenwĂ€rtiges und JĂŒngstvergangenesâ, lĂ€sst Musil nicht gelten. Im
Gegenteil : Er Ă€uĂert ein fundamentales UngenĂŒgen an der zeitgenössischen
derungen vgl. bereits den Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, in dem Musil feststellt :
âVersailles war ein Brennspiegel des europĂ€ischen politischen Denkens. Der Einzelne aber war
der gleiche vor 1914, im Sommer 1914, bei Brest-Litowsk, bei den vierzehn Punkten [Wilsons,
N. C. W.], in Versailles ; der gleiche in Frankreich und Deutschland ; er hat bloĂ die entsetzlichs-
ten GegensĂ€tze erlebt, fast ohne die ĂbergĂ€nge zu merken ; er hat sich bloĂ als zu allem fĂ€hig
erwiesen und hat es gewĂ€hren lassen ; bei voller Illusion eigenen Willens folgte er willenlos.â
(GW 8, 1062)
7 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 103. In auffallender Differenz dazu formuliert Böhme spÀ-
ter eine fast gegenlĂ€ufige These ; vgl. Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 308 : âMenschen
haben in diesem Kraftfeld keine strategische Position mehr inne, sondern werden wie die Dinge
zu Elementen natĂŒrlicher und sozialer Systeme.â
8 Vgl. etwa Sieder : Sozialgeschichte der Familie, S. 212â214 ; Frevert : Frauen-Geschichte, S. 146â
163.
9 Gemeint ist das inkommensurable Erlebnis des Blicks auf das scheinbar leere Schlachtfeld im
Stellungskrieg, der die Landschaft zum Verschwinden brachte (so etwa vor Walter Benjamin
schon Kurt Lewin) ; vgl. dazu Makropoulos : ModernitÀt und Kontingenz, S. 107. Dabei gilt
es allerdings eine entscheidende Differenz zu berĂŒcksichtigen : WĂ€hrend man bei der Betrach-
tung der Weltgeschichte aus der NĂ€he den Wald vor lauter BĂ€umen nicht sieht, sind auf dem
Schlachtfeld keine BĂ€ume mehr zu sehen.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208