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67Grundlagen
der Poetik Musils
Geschichtswissenschaft, indem er die historiografische âObjektivitĂ€tâ und
deren Forderung nach âhistorische[r] Distanzâ als reduktionistische Vorge-
hensweisen entlarvt, die einerseits auf dem Verlust einer groĂen Mehrzahl der
âTatsachenâ beruhen, andererseits auf einer analytischen âAustrocknungâ des
âLebendigenâ (GW 8, 1076).10 Da âein symptomatologisches Bildâ geschichtli-
cher âAuf- und NiedergĂ€nge im allgemeinenâ und mithin auch der âGlaube[ ]
an die Notwendigkeit der Geschichteâ auf lange Sicht utopisch scheine11, ma-
che sich vielmehr âein merkwĂŒrdiges GefĂŒhl von Zufallâ breit :
Leicht vermag man hinterdrein im Versagen der deutschen Diplomatie oder Feld-
herrnkunst zum Beispiel eine Notwendigkeit zu erkennen : aber jeder weiĂ doch, daĂ
es ebensogut auch anders hÀtte kommen können, und daà die Entscheidung oft an
einem Haar hing. Es sieht beinahe aus, als ob das Geschehen gar nicht notwendig
wĂ€re, sondern die Notwendigkeit erst nachtrĂ€glich duldete. [âŠ] Schlicht gesagt : Was
man geschichtliche Notwendigkeit nennt, ist bekanntlich keine gesetzliche Notwen-
digkeit, wo zu einem bestimmten p ein bestimmtes v gehört, sondern ist so notwen-
dig, wie es Dinge sind, âwo eins das andere gibtâ. Gesetze mögen schon dabei sein
[âŠ], aber doch ist immer auch etwas dabei, das so nur einmal und diesmal da ist.
Und nebenbei bemerkt, zu diesen einmaligen Tatsachen gehören zum Teil auch wir
Menschen. (GW 8, 1077 f.)
Musil unternimmt hier eine idealtypische gnoseologische GegenĂŒberstellung
zwischen dem klassischen naturwissenschaftlichen KausalitÀtsprinzip und
einem geschichtswissenschaftlichen Prinzip konsekutiver Folge, wonach in
historischen ZusammenhĂ€ngen nur unter Vorbehalt von âNotwendigkeitâ die
Rede sein sollte.12 Geschichte funktioniert demnach analog zur ErzÀhlung, die
10 Im zweiten Argument kann man ohne viel Phantasie einen lebensphilosophischen Rest ent-
decken, der in anderer Form auch fĂŒr die zeitgenössische Soziologie mit ihrem Konzept einer
âorganischen Gesellschaftâ eine gewisse Rolle spielt. Musil hingegen interessiert sich vor diesem
Hintergrund weniger fĂŒr Ideologeme des âOrganischenâ, sondern vor allem fĂŒr die Ăberwindung
rein scholastischer ErklÀrungsmuster ; vgl. unten.
11 Die in Musils Argumentation deutliche antigeschichtsphilosophische StoĂrichtung mag einen
guten Teil der Vorbehalte erklÀren, die in den siebziger Jahren gegen den Roman erhoben wur-
den ; Arbeiten wie Böhmes Anomie und Entfremdung basieren ja selbst auf einer hegelianisch-
marxistischen Spielart normativer Geschichtsphilosophie. Bezeichnend ist in diesem Zusam-
menhang die Vertauschung der Vorzeichen bei Böhme, HĂŒppauf und anderen Musil-Forschern
in den achtziger Jahren unter dem Einfluss der Postmoderne. Die exponiertesten Vertreter
âavancierterâ Forschungspositionen sind oft diejenigen, die diese Positionen dann am schnellsten
wieder aufgeben.
12 Zu Musils entschiedener Ablehnung aller âVersuche, historische oder soziale Wirklichkeiten auf
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208