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70 Teil I: Grundlegung
denen Kontexten unterschiedlich verhalten, entsteht VerÀnderung und somit
Geschichte. Das âEntscheidende und Treibendeâ einer solchen VerĂ€nderung
sei allerdings nicht in den Menschen selbst, sondern
an der Peripherie [zu] suchen, bei den Um-stĂ€nden [sic], beim âAns-Ruder-Kommenâ
bestimmter Menschen- oder Anlagengruppen innerhalb eines im ganzen ziemlich
gleichen Gemischs, beim Zufall, oder, richtiger gesagt, bei der âungesetzlichen Not-
wendigkeitâ, wo eins das andere gibt, nicht zufĂ€llig, aber doch in der durchreichenden
Aneinanderkettung von keinem Gesetz beherrscht. (GW 8, 1081)
Das von Musil vertretene anomische KonsekutivitĂ€tsprinzip, das er fĂŒr histo-
rische VerĂ€nderungen verantwortlich macht, richtet sich ausdrĂŒcklich gegen
geschichtsphilosophische und typologische Hypostasierungen essenzialisti-
scher Art, welche unterschiedlichen Epochen, Nationen, Rassen, Klassen etc.
jeweils eigene, in sich konstante Menschentypen zuordnen. In diesem pole-
mischen Zusammenhang hat seine Vorstellung von der menschlichen âUn-
beschriebenheitâ und âWesensgleichheitâ ihren historisch-diskursiven Ort. Wie
die zitierte Formel vom âim ganzen [!] ziemlich gleichen Gemisch[ ]â zeigt,
ist bei der verallgemeinernden Rede vom âMenschenâ immer an einen statis-
tischen Mittelwert gedacht, nicht an das einzelne Individuum. Der Mensch
Ă€ndert sich demnach durchaus als historisches Individuum, nicht aber seine
Gattung. Nach diesem Muster der Unterscheidung von Individuum und Gat-
tung ist offenbar auch der ebenfalls zitierte enigmatische Satz zu verstehen :
âEr Ă€ndert sichâ â als historisches Individuum â, âaber er Ă€ndert nicht sichâ â
als Exemplar der Gattung.19
Genaueres zum âTheorem von der menschlichen Gestaltlosigkeitâ (GW
8, 1371) ist Musils Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) zu
entnehmen, das als Folge mehrerer, zu Lebzeiten unveröffentlichter EntwĂŒrfe
vorliegt. Musil polemisiert darin gegen die Gewohnheit, dass
bestimmte, sich charakteristisch von einander abhebende Zeit- und Kulturabschnitte
auf verschiedene Substrate, als die einfachsten Arten von Ursachen zurĂŒckgefĂŒhrt
werden ; in diesem Sinne spricht man dann von einem Àgyptischen, hellenischen,
gotischen Menschen, von Nationen, Rassen und geheimnisvollen Epochen oder Kul-
turen. Es ist das eine sehr beliebt gewordene Art historischer Phrenologie, welche
19 Vgl. dagegen die âontologisierendeâ Deutung von Neymeyr : Utopie und Experiment, S. 150 :
âVermutlich ist damit gemeint, daĂ der Mensch zwar Ă€uĂeren EinflĂŒssen unterliegt, die Tiefen-
schicht seines âeigentlichenâ Wesens davon aber unberĂŒhrt bleibt.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208