Page - 71 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 71 -
Text of the Page - 71 -
71Grundlagen
der Poetik Musils
ungefÀhr besagt : der diebische Mensch hat in seinem Cerebrum ein physiologisches
Substrat des Diebstahls und der ehrliche Mensch einen Organteil der Ehrlichkeit.
(GW 8, 1368)
In geschichtlichen Kontexten gelange man bei konsequenter Befolgung die-
ser abstrusen âDenkweiseâ zu der von Musil als zeitgenössisches Credo be-
schriebenen komischen Situation, âdaĂ alle 5 Jahre eine neue Generation da
istâ (GW 8, 1368). Schon in Das hilflose Europa hat er ironisch festgestellt :
â[S]obald ein neuer Ismus auftritt, glaubt man, ein neuer Mensch sei da, und
mit SchluĂ jedes Schuljahrs hebt eine neue Epoche an.â (GW 8, 1087) Sol-
chem modischen Unsinn hĂ€lt er in affirmativer Absicht âeine andre Grund-
vorstellungâ entgegen, âwelche, extrem gefaĂt, folgende Behauptung enthĂ€lt :
Das Substrat, der Mensch, ist ĂŒberhaupt nur eines und das gleiche durch alle
Kulturen und historischen Formen hindurch ; wodurch sie und somit auch er
sich unterscheiden, kommt von auĂen und nicht von innen.â (GW 8, 1368)
Bei flĂŒchtigem Blick wirkt diese Passage, in der immerhin von einem mensch-
lichen âSubstratâ gehandelt wird, wiederum deutlich ontologisierend ; in die-
sem Sinn ist sie auch von der âkritischenâ Musil-Forschung der siebziger Jahre
verstanden worden.20 Dagegen spricht jedoch die abschlieĂende Formulie-
rung, der zufolge die kulturellen und historischen Differenzen der Menschen
âvon auĂen und nicht von innenâ kommen.21 Genau dieser antiessenzialisti-
sche Grundgedanke wird in der Folge weiter profiliert :
Was immer wir tun, tun wir in den Formen unsrer Zeit und von ihr bestimmt. [âŠ]
Versuchen wir von uns abzuziehen, was zeitbedingtes Convenu ist, so bleibt etwas
ganz Ungestaltetes, denn auch unser Persönlichstes ist als Abweichung auf das Sys-
tem der Umwelt bezogen. Der Mensch existiert nur in Formen, die ihm von auĂen
geliefert werden. âEr schleift sich an der Welt abâ, ist ein viel zu mildes Bild ; er preĂt
sich in ihre Hohlform, mĂŒĂte es heiĂen. Die gesellschaftliche Organisation gibt dem
Einzelnen ĂŒberhaupt erst die Form des Ausdrucks, und durch den Ausdruck wird erst
der Mensch. (GW 8, 1370)
20 Vgl. Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 102â156, der Musils Gestaltlosigkeitstheorem âaus
konkreten Erfahrungenâ (S. 103) historisch herzuleiten versucht und dabei insbesondere auf
die essenzialistische marxistische Entfremdungstheorie rekurriert. Noch Neymeyr : Utopie und
Experiment, S. 156 f., diagnostiziert in Musils Argumentation â ungeachtet ihrer sonstigen Be-
weisfĂŒhrung gegen Böhme â eine âTendenz zur Ontologisierungâ, ja eine âOntologisierung his-
torischer Erfahrungâ (vgl. ebd., S. 156â161).
21 Vgl. dazu Wefelmeyer : Kultur und Literatur, S. 197 f.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208