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73Grundlagen
der Poetik Musils
und schreibt ihn einem âkleine[n], dauernd in einer bestimmten Richtung
wirkende[n] Ăbergewicht von UmstĂ€nden, von AuĂerseelischem, von Zu-
fĂ€lligkeiten, Hinzugefallenemâ zu (GW 8, 1081). Es geht ihm dabei nicht
um das einzelne Individuum, sondern um die fragliche innere Konstitution
der gesamten menschlichen Gattung â ganz gleich, ob es sich um Deut-
sche des 20. Jahrhunderts, um Afrikaner, Juden oder antike Griechen han-
delt. Das âWesenâ der Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen ist
als solches âebensoleicht [sic] fĂ€hig der Menschenfresserei wie der Kritik
der reinen Vernunftâ (GW 8, 1081 ; vgl. MoE 130, 361 u. 414) â allerdings
weniger das des einzelnen Menschen, der Musils Argumentation zufolge zu
einem solchen Changieren nur durch die Gunst oder Ungunst spezifischer
Ă€uĂerer UmstĂ€nde in der Lage ist, keineswegs aber unabhĂ€ngig von der Ge-
schichte. Vor diesem Hintergrund betrachtet, betreibt er in seiner ânegativenâ
Anthropologie nicht eine ahistorische Ontologisierung anthropologischer
Eigenschaften,24 sondern bekÀmpft diese gerade durch seine Feststellung
menschlicher Unbeschriebenheit und VariabilitÀt. Und das ist auch keine
bloĂ vorĂŒbergehende Haltung.25 Entsprechendes lĂ€sst sich noch einige Jahre
spĂ€ter â in einer entscheidenden Phase der Arbeit am Mann ohne Eigenschaf-
ten26 â anhand einer strukturell analogen Passage aus der Rede zur Rilke-Feier
in Berlin am 16. Januar 1927 bestĂ€tigen ; dort heiĂt es :
DaĂ die ĂbergĂ€nge von der moralischen Regel zum Verbrechen, von der Gesundheit
zum Kranksein, von unserer Bewunderung zur Verachtung der gleichen Sache glei-
tende, ohne feste Grenzen sind, das ist durch die Literatur der letzten Jahrzehnte[27]
und andere EinflĂŒsse vielen Menschen zu einer SelbstverstĂ€ndlichkeit geworden. [âŠ]
Betrachten wir den Einzelnen, so ist diese âFĂ€higkeit zu allemâ recht starken Hem-
mungen unterworfen. Wenn wir aber die Geschichte der Menschheit, also die Ge-
schichte der NormalitÀt par excellence, betrachten, so kann es keinen Zweifel geben !
Die Moden, Stile, ZeitgefĂŒhle, Zeitalter, Moralen lösen einander derart ab oder be-
stehen gleichzeitig in solcher Verschiedenheit, daĂ die Vorstellung kaum abzuweisen
24 Neymeyr : Utopie und Experiment, S. 151 f., versteht Musils Argumentation hier hingegen âim
Sinne einer ĂŒberzeitlich konstanten SubstantialitĂ€t oder IdentitĂ€tâ, ja einer âHomogenitĂ€t und
StabilitĂ€t des menschlichen Wesensâ.
25 Musil behauptet im November 1919 sogar, er habe die These, âdaĂ der Mensch moralisch eine
Ungestalt ist, eine kolloidale Substanz, die sich Formen anschmiegt, nicht sie bildetâ, âschon vor
dem Krieg vertretenâ (Tb 1, 540).
26 Vgl. Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 305â337.
27 Zu denken ist dabei neben expressionistischen Texten auch an Musils eigene Arbeiten, etwa an
den TörleĂ.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208