Page - 75 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 75 -
Text of the Page - 75 -
75Grundlagen
der Poetik Musils
eine von der bisherigen Forschung kaum wahrgenommene, eminent kritische
Komponente.30
Dem Gestaltlosigkeitstheorem bleibt Musil zeitlebens treu ; er vertritt es
etwa öffentlich in seiner Rede Der Dichter in dieser Zeit (16. Dezember 1934),
also nach der Veröffentlichung der kanonischen Romanteile. Wiederum mit
Bezug auf die Erfahrung des Weltkriegs hĂ€lt er dort fest : âWas wir im Krieg
erlebt haben, war unsere UnselbstÀndigkeit und AbhÀngigkeit in einer Masse,
von der wir vor- und zurĂŒckgerissen wurden, und mit der wir Befehlen ge-
horchten, in die wir keine Einsicht hatten, deren Berechtigung wir aber sum-
marisch anerkannten.â (GW 8, 1246 f.) Entsprechendes bestĂ€tigte sich ihm in
Deutschland angesichts der nationalsozialistischen âMachtĂŒbernahmeâ : âDer
heutige Mensch erweist sich als noch unselbstÀndiger, als er es selbst meint,
und wird erst im Verband zu etwas Festem.â (GW 8, 1247) Musil konstatiert
âdie UnselbstĂ€ndigkeit, das FĂŒhrungsbedĂŒrfnis, die Ă€uĂere und ihr folgende
innere AbhĂ€ngigkeit des heutigen Menschenâ und spricht von âeiner dĂ€m-
mernden Erkenntnisâ seiner ânotwendigen Charakterlosigkeitâ, âohne daĂ
damit etwas ĂŒber das MaĂ ihrer Erlaubtheit gesagt sein sollâ (GW 8, 1247).
Seine Haltung in dieser Angelegenheit lÀsst indes wenig Deutungsspielraum :
âUnsere Erfahrung hat uns also â eine politisch ganz vorurteilslose Erfahrung !
â an ein Spezifikum, ein Aroma âKunstâ oder âGenialitĂ€tâ glauben gelehrt, von
dem der Einzelne mehr oder weniger haben kann, das aber ganz unabhÀngig
von Ort, Zeit, Nation und Rasse ist.â (GW 8, 1251)
Aber gibt es bei Musil nicht dennoch eine latente Neigung zum Ontologi-
sieren ? Zu denken ist etwa an seine Deutung des Ersten Weltkriegs als âFlucht
vor dem Friedenâ, wie er sie ebenfalls im Essay Das hilflose Europa vornimmt :
âDieses plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers erscheint nur mög-
lich, wo alles vorbereitet war und sich nach Erdbeben, Feuersbrunst und Ge-
fĂŒhlsstĂŒrmen sehnteâ (GW 8, 1089). Die kollektive Vorbereitung, ja Sehnsucht
nach dem groĂen Krieg deutet Musil nun im flagranten Widerspruch zum
eigenen âGestaltlosigkeitstheoremâ auffallend existenzialistisch : Er spricht da
nĂ€mlich â im Unterschied zum âtraditionellenâ Krieg als Mittel der Politik â
von einem âexplosiv-seelische[n] Momentâ ; gemeint ist
30 Ausnahmen bilden Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 172 f.; Vatan : Musil et la question
anthropologique, S. 247 u. 258â260. Vgl. dagegen die âexistenzialistischeâ Argumentation und
Kritik bei Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 103 : âDas Theorem der Gestaltlosigkeit formu-
liert die Sinnlosigkeit menschlicher Existenz. Gestaltlosigkeit kann allenfalls zum Signum wer-
den einer Negativposition jenseits geschichtlicher Bestimmungen, denen sie sich zu entziehen
sucht.â
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208